Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
Vom Netzwerk:
umwittert, aufgehört, eine geistige Existenz zu führen. Er hatte sich seine verzweifelte Enttäuschung nicht zugestehen wollen, er spielte einfach seine Rolle weiter, Schauspieler ohne Publikum, vor leeren Bänken. Aber der Schauspieler wurde zum Glücksspieler, es war nur ein Wechsel der Masken. Er sagte, der Spieler sei ein Bastard der Phantasie, nur wer den Besitz verachte, könne um großen Einsatz spielen. Er hatte das fürchterliche Debakel seines Lebens im Innern noch nicht verwirklicht, er träumte von Reichtümern, hielt das Exil für vorübergehend, die Aufhebung der Ächtung für eine Frage der Zeit, sein Ziel war, aus den hunderttausend Francs von Annas Erbschaft sechs- bis siebenmalhunderttausend zu machen, das schien ihm ein leichtes, mit dieser Summe ließ sich dann eine goldne Brücke zur Rückkehr bauen. Und nun war sein Geschäft, das Glück zu zwingen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, verbohrt und verbissen. Als alles vertan war, kam die Ernüchterung. »Ich begriff, wie einer, der aus einer Opiumhöhle in den eiskalten Morgen tritt, daß ich in Europa keinen Boden mehr hatte. Aber auch der Gedanke, über den Ozean zu gehen, war zuerst nur Träumerei. Auch da träumte ich zuerst nur von einem Zufallsglück und davon, daß die Heimat mir das zugefügte Unrecht abbitten und mich wieder mit offenen Armen empfangen würde. So tief war die Verblendung. Aber in jener erwähnten Nacht hatte ich ein Wahrbild meines vergangenen Lebens, es stierte mich an wie eine Larve aus der Unterwelt. Endlich wußte ich, es gab keine Umkehr. Es gab entweder die Kugel in den Kopf oder . . . die Schiffe hinter mir verbrennen, nicht mehr zurückschauen, sich im Unbekannten unbekannt verlieren. So geschah es. Aber, mein guter Mohl, es kamen Jahre . . . ich fürchte, es geht über meine Kraft, Ihnen davon eine Vorstellung zu geben . . .« Er schritt ins Zimmer zurück, bis zur gegenüberliegenden Wand, und kauerte sich auf einen niedrigen Bücherstoß, die Stirn weit nach vorn gesenkt. Die weißen Borsten auf seinem Schädel glitzerten wie Eis. Etzel machte sich ganz klein und war ganz, ganz still. Am liebsten hätte er sich in den Ofen verkrochen, um nur zu lauschen und von Warschauer nicht mehr gesehen zu werden.
    3

    Es handelte sich nicht um einen bestimmten Vorgang. Es gab da keine Geschichte mit spannenden Wendungen. Nicht einmal einen rechten Anfang hatte der Bericht, keinen Einschnitt, keine Steigerungen. Nur Bilder flammten von Zeit zu Zeit auf, die an Blinkfeuer über trübem und eintönigem Wassergewoge erinnerten. (Etzel kannte die Blinkfeuer von der Nordsee her, wo er vor drei Jahren mit dem Vater ein paar Ferienwochen bei Sydows verbracht hatte.) Ja, wie trübes und eintöniges Wassergewoge berührte ihn nun die Sprechweise Warschauers, das Aufbrausende, leidenschaftlich Überbreitende seiner Rede hatte sich verloren, alles wirkte wahrer. Es war ein Unterschied wie zwischen einem Erzähler, der fortwährend schreit und Grimassen schneidet, so daß man nicht ordentlich aufpassen kann auf das, was er sagt, und einem, der dasitzt, ohne sich zu rühren, kaum zu sehen ist und nur spricht, nur spricht . . . Was Etzel vernahm, zog ihn wie eine Schraube hinunter (er hatte sogar ein körperliches Gefühl von Hinabgezogenwerden), in allem war eine ungeheure, eine herzlähmende Logik zu spüren. Scheinbar bestand kein unmittelbarer Zusammenhang mit seiner Sache, aber das beunruhigte ihn nicht weiter, er würde den Zusammenhang schon wieder herstellen, dünkte ihn doch, als ob alles nur wie Abwandlung des Einen sei, der einen »Sache«, die irgendwann, zu irgendeiner Stunde zum Austrag kommen mußte.
    Waremme verließ also damals Europa mit dem vollen Bewußtsein der Endgültigkeit. Auswanderer im kahlsten Sinne des Wortes, für den es eine Heimat nicht mehr gibt. Er hatte sich damals abgefunden. Er mußte vergessen, er mußte von vorn anfangen. Jedoch über die wesentliche Schwierigkeit seiner Lage war er sich am Beginn dieses Schrittes noch immer nicht klar. Europa den Rücken kehren heißt noch nicht, ohne Europa existieren können. Er fing an zu verstehen, was Europa für einen Menschen wie ihn eigentlich war. Nicht bloß seine persönliche Vergangenheit, sondern die Vergangenheit von dreihundert Millionen Menschen. Zugleich das, was er davon wußte, was er davon im Blute hatte. Nicht bloß die Landschaft, die ihn hervorgebracht, sondern Bild und Form aller Landschaft zwischen Nordsee und Mittelmeer, ihre Atmosphäre,

Weitere Kostenlose Bücher