Der Fall Maurizius
Fünfzigjährigen nicht unschuldig sind. Und doch, es ist ein einheitlicher Geist da, weil eine einheitliche Verzweiflung da ist. Sie wollten aber etwas anderes sagen . . .« – »Nein, nur das, was Sie eben gesagt haben«, erwiderte Etzel, über den ein förmlicher Rausch kam; seine Züge belebten sich dermaßen, daß er geradezu rosig anzusehen war, auch spürte er weder Fieber noch Schmerzen mehr; »nur das wollte ich sagen. Wir müssen ja verzweifeln, wenn mit der Gerechtigkeit Schindluder getrieben wird. Darauf beruht doch alles, nicht wahr? In alten Büchern liest man, daß Soldaten geweint haben, wenn die Fahne des Regiments beschimpft wurde. Was sollen wir erst tun, wenn die einzige Fahne, zu der wir noch aufblicken, Tag für Tag besudelt wird, noch dazu von den Fahnenträgern selbst. Gerechtigkeit, scheint mir, ist das schlagende Herz der Welt. Ist's so oder nicht?« – »Es ist so, lieber Freund«, bestätigte Ghisels. »Gerechtigkeit und Liebe waren uranfänglich Schwestern. In unserer Zivilisation sind es nicht einmal weitschichtige Verwandte mehr. Man kann viele Erklärungen geben, ohne irgend etwas zu erklären. Wir haben kein Volk mehr, Volk als Leib der Nation, infolgedessen ist das, was wir Demokratie nennen, auf eine amorphe Masse gestellt, kann sich nicht sinnvoll gliedern und erheben und erstickt alle Idealität. Man brauchte vielleicht einen Cäsar. Aber woher soll er kommen? Man muß vor dem Chaos Angst haben, das ihn erst gebären kann. Was die Besten tun, ist im besten Fall, daß sie Kommentare zu einem Erdbeben liefern. Das andere ist . . . so!« Er blies über seinen Handrücken, als bliese er eine Flaumfeder weg. »Ich möchte Ihnen nur eines sagen«, fuhr er fort, »denken Sie ein wenig darüber nach, vielleicht bringt es Sie wieder um einen Schritt weiter, wir können uns ja nicht anders als ganz, ganz langsam, Schritt für Schritt fortbewegen, zwischen jedem Schritt und dem nächsten liegt alle Schwäche, alle Versäumnis, alle Täuschung, auch noble Täuschung, deren wir uns schuldig machen. Es ist keine Heilslehre, keine gewaltige Wahrheit, die ich im Sinn habe, aber vielleicht, wie gesagt, ist es ein Wink, eine kleine Handreichung . . . Ich meine nämlich, Gut und Böse entscheiden sich nicht im Verkehr der Menschen untereinander, sondern ausschließlich im Umgang des Menschen mit sich selbst. Verstehen Sie?« – »Ja, ich verstehe«, sagte Etzel und schlug die Augen nieder, »doch . . . halten Sie mich nicht für borniert . . . ich muß das sagen, es ist ein Beispiel, . . . wenn mein Freund oder der Vater von meinem Freund . . . oder irgend jemand, der mir nahsteht oder meinetwegen auch nicht nahsteht, wenn der unschuldig im Gefängnis sitzt und ich . . . was soll ich da tun . . . wieso hilft mir da der Umgang mit mir selbst? Da gibt es doch nur eins, was ich fordern muß: Recht! Gerechtigkeit! Soll ich ihn schmachten lassen? Soll ich ihn vergessen? Soll ich sagen: Was geht's mich an? Was soll ich machen? Was ist denn die Gerechtigkeit, wenn ich sie nicht durchsetze, ich, ich selber, Etzel Andergast –?«
Er hatte sich unwillkürlich erhoben und sah Ghisels mit einem Blick ins Gesicht, als fordere er von ihm, und zwar auf der Stelle, Recht und Gerechtigkeit. Auch Ghisels erhob sich aus seiner ruhenden Lage zum Sitzen. Eine Weile hielt er dem Blick des Knaben stand, dann schaute er in den erloschenen Himmel hinaus; dann sagte er leise, indem er beide Arme ausbreitete: »Ich habe darauf nichts zu erwidern als: Verzeihen Sie mir, ich bin ein ohnmächtiger Mensch.« Er sah einen Augenblick so unendlich gequält aus wie der Gekreuzigte von Matthias Grünewald. Da senkte Etzel den Kopf wie unter einem Hieb. Er begriff sofort die Großartigkeit der Antwort wie auch den ungeheuren Verzicht darin. Und noch etwas begriff er in seinem schwergewordenen Herzen: die zehntausend Engel auf dem Rosenblatt, sie waren eine Metapher, ein Gedicht, ein geheimnisvoll-schönes Symbol, nichts weiter, ach, nichts weiter . . .
Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich, in dem beleuchteten Viereck erschien schwarz die Frau des Hauses und sagte mit ihrer brüchig-klanglosen Stimme: »Du mußt jetzt zu Tisch kommen, Ghisels.« Melchior Ghisels stand auf, mühsam, wie nur Leidende sich erheben, reichte Etzel die Hand und drückte sie mit fast kummervoller Innigkeit. Nicht viel fehlte, und Etzel hätte ihm die Hand geküßt. Auf der Straße unten fuhr eine Droschke vorbei, er gab ein Zeichen und fiel halb
Weitere Kostenlose Bücher