Der Fall Maurizius
bewußtlos hinein, als sie an der Hausecke hielt.
Zwölftes Kapitel
1
Als Herr von Andergast nach einer schlaflosen Nacht (an der vielleicht nur das miserable Wirtshausbett schuld war, obschon der spartanische Sinn des Oberstaatsanwalts solche Unannehmlichkeiten nicht zu beachten pflegte) um sieben Uhr morgens die Zelle betrat, saß Maurizius lesend am Tisch. Der Sträfling legte das Buch beiseite, erhob sich und sah eigentümlich erstarrt zu, wie der Wärter, nicht ohne neugierige Verwunderung in dem gedunsenen Alkoholikergesicht, die Tür wieder schloß. »Guten Morgen«, sagte Herr von Andergast mit behaglichem Ton, der jedoch das Ohr des Sträflings nicht über seine Künstlichkeit täuschen konnte. – »Guten Morgen«, klang es militärisch straff zurück. – »Haben Sie sich einigermaßen ausgeruht?« – Verbeugung. – »Darf man fragen, was Sie lesen?« Herr von Andergast nahm das Buch in die Hand, es war die Chronik der Stadt Rothenburg von Sebastian Dehner. »Ah, interessiert Sie das? Überflüssige Frage, natürlich interessiert es Sie, da Sie sich ja damit beschäftigen.« – »Man bekommt ein gutes Bild, wie das Volk einmal gelebt hat. Vielmehr, wie es daran verhindert worden ist, zu leben.« – »Hm. Ich weiß nicht. Das Volk hat in jenen Zeiten kraftvoller gelebt als heute.« – »Jedenfalls geduldiger. Wenn man ihre Häuser plünderte und ihr Vieh erschlug, beschwerten sie sich beim Kaiser, und wenn ihnen der Kaiser nicht half, veranstalteten sie Bittprozessionen. Die Menschen waren immer sehr geduldig; sie sind's noch jetzt. Darauf pochen alle Regierungen, auf die Geduld der Menschen, damit bestreiten sie ihre Existenz.« – Herr von Andergast runzelte die Stirn. »Sie sind gallig«, sagte er mit dem merkbaren Entschluß, nachsichtig zu sein, »aber wir wollen ja die kostbare Zeit nicht mit Polemik vertun. Sie hatten die Absicht . . . ich hoffe, Sie haben sich's nicht anders überlegt. Sie sehen, ich bin auf Ihren . . . Ihren Vorschlag eingegangen und habe mich Ihnen für diesen Tag gänzlich zur Verfügung gestellt.« – Über Maurizius kam wieder das Starre. Mit starrem Blick erwiderte er: »Was ich versprochen habe, das halte ich.« Er lehnte an der Mauer. Herr von Andergast zog den Stuhl ans Fenster und ließ sich darauf nieder. Er machte gegen Maurizius, genau wie am Beginn des gestrigen Gesprächs, eine kordiale Handbewegung, die ihn aufforderte, ebenfalls Platz zu nehmen. Aber Maurizius schien es nicht zu bemerken. Er blieb an der Mauer stehen. Seine Lider schlossen sich halb, die kleinen Zähne nagten an der schön geschwungenen Oberlippe, er fuhr ein paarmal nervös mit der schlanken Hand über die Stirn und fing mit leiser Stimme, die bisweilen versickerte, so daß sie nur noch mit Anstrengung gehört werden konnte, zu sprechen an.
2
Er kann den Tag, an dem er Anna zum erstenmal sah, genau bezeichnen. Es war der 19. September 1904, ein Montag. »Ich kam von der Universität nach Hause, im Vorzimmer hing ein pelzgefütterter Damenmantel, von dem Mantel strömte ein Parfüm aus, zarter Verbenenduft . . . noch jetzt kommt mir der Geruch manchmal im Traum.« (Er stockte, wie um zu schnuppern, wollte es Herrn Andergast scheinen. Überhaupt war der Anfang der Erzählung durch häufiges Stocken und Innehalten unterbrochen, ein sichtbares Zurückdenken, ein Zurücklangen beinahe, wie wenn jemand ins Wasser greift, um mit Anstrengung, mit einer Art von Angst untergesunkene Gegenstände herauszuholen. Dies auch nur einigermaßen wiederzugeben, ist natürlich unmöglich.) Als er ins Zimmer tritt, sieht er die Schwestern einander gegenübersitzen. Seine Frau sagt lächelnd: das ist Anna. Er kann seine Betroffenheit nicht verbergen. Er hat viel von Annas Schönheit reden hören, seine Erwartungen sind in dieser Hinsicht hochgespannt (da er ja auf ihre Ankunft vorbereitet war), aber der lebendige Anblick überrascht ihn dennoch. Sie ist schöner, als er erwartet hat. Sie ist jedenfalls anders, als er erwartet hat. Ihre Gegenwart hat etwas Beengendes. Vor allem ist ihm der Gedanke, sie zum Hausgenossen zu haben, nicht behaglich. Abgesehen von der Störung der Ruhe und Bequemlichkeit, die ein Logiergast mit sich bringt, hat dieses achtzehn- oder neunzehnjährige Mädchen etwas an sich, das zu einer ständigen Aufmerksamkeit zwingt. Was es ist, läßt sich vorerst nicht präzisieren, man spürt es bloß. Im Verlauf der nächsten Tage findet er, kann sich auch nicht enthalten, es seiner Frau
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