Der Fall Maurizius
gegenüber tadelnd zu äußern, daß Anna unliebenswürdige Manieren habe. Er bezeichnet mehrere Anlässe, bei denen sie ihn durch ihr hochmütiges Wesen geärgert hat. Es scheint sogar, daß sie solche Anlässe sucht. Sie behandelt mich, als hätte ich silberne Löffel gestohlen, sagt er zu Elli. Diese bemüht sich, die Schwester zu entschuldigen. Sie fühlt sich durchaus als deren Patronin. Es entgeht ihm aber nicht, daß die beiden einander nicht verstehen. Elli bewundert Annas von allen bewunderte Schönheit, sie bemüht sich, ihr mit Rat und Tat zu helfen, denn Anna hat Existenzsorgen, ihre schwierige Lebenssituation verpflichtet Elli, sich ihrer anzunehmen, aber zwanzig Jahre Altersunterschied sind nicht zu überbrücken, eine Schwester kann nicht Botmäßigkeit fordern, Anna ist auch nicht im mindesten zur Botmäßigkeit gewillt. Er beobachtet. Er hält sich im Hintergrund. Mit einer gewissen Lust heftet er seine Kritik an Dinge, die ihm an der Schwägerin mißfallen. Ihre Gewohnheit, jeden Sonntag zur Beichte zu gehen, ist ihm besonders fatal. Als er sich einmal zu einer spöttischen Bemerkung hinreißen läßt, entgegnet sie: Ein Gottloser soll nicht an ein Sakrament rühren. Denselben Abend liest er ihr und Elli eine kleine Abhandlung über die Dürerschen Landschaften vor, die er eben vollendet hat. Die Arbeit scheint auf Anna Eindruck zu machen. Sie sprechen darüber. Er fragt: Nennst du den gottlos, der das geschrieben hat, und was ist dann ein Gottloser? Sie schweigt, sie scheint nachzudenken. Sie hat beständig ein undeutbares Lächeln auf den Lippen. Wenn man öfter in ihrer Gesellschaft war, wird es ein unangenehm stereotypes Lächeln. Es ist eine fertige Quittung für alles mögliche: Komplimente, Ratschläge, Dienstleistungen, Widerspruch und Forderung. Es hält eine flackrige Mitte zwischen Scham und Spott. Maurizius verweilt ungewöhnlich lange bei der Analyse dieses Lächelns. Er nennt es ein spezifisch jungfräuliches Lächeln, spröd und respektlos. Es gibt, führt er aus, eine Dreistigkeit, die man nur bei achtzehnjährigen Mädchen findet und toleriert. Hätte man das Lächeln von ihren Lippen ablösen können, etwa wie das Etikett von einer Schachtel, so hätte man vielleicht etwas Beschädigtes erblickt, so nennt er es grübelnd, den Sprung in der Glasur. Aber halten wir uns dabei nicht weiter auf. (Er gibt sich offenbar Mühe, die Gestalt Annas, an der Herr von Andergast vorläufig noch nichts Fesselndes entdecken kann, ganz genau zu verdeutlichen, und erwähnt sogleich einen charakteristischen Zwischenfall.) Eines Morgens sagt Elli zu ihm: Denk dir, Anna will nicht bei uns wohnen bleiben. Ah, wir sind ihr wohl nicht vornehm genug, antwortet er, nun, der alte Jahn in Köln hat auch nicht in einem Palais residiert. Das ist es nicht, gibt Elli ziemlich verlegen zurück, es paßt ihr nicht, daß ihr Zimmer neben unserm Schlafzimmer liegt, ich habe ohnehin schon, weil sie's ausdrücklich verlangt, den Kleiderschrank vor ihre Tür stellen und den Zwischenraum mit Matratzen stopfen lassen; es genügt ihr nicht, es ist ihr peinlich. Eine solche Prüderie erklärt Maurizius für widerwärtig. Elli muß seine Entrüstung beschwichtigen, Anna sei im Kloster erzogen worden, das müsse man in Betracht ziehen und ihr die Übertriebenheit nachsehen. Ja, es ist das Katholische an ihr, gibt er mißbilligend zu, und auf Grund seiner Lebemannserfahrungen verkündet er den Gemeinplatz von der lasterhaften Phantasie, die hinter züchtig gesenkten Augen ihr Unwesen treibe. Jedoch Annas Augen sind keineswegs züchtig gesenkt. Im Gegenteil, ihr Blick umfaßt Dinge und Menschen mit einer unnachsichtigen Offenheit (»oberhalb des erwähnten Lächelns, wissen Sie«), als sei ihr das Heimlichste nicht fremd. Man kennt sich überhaupt nicht mit ihr aus. Die ganze Person will nirgends hin passen, in die Bürgerwelt nicht, in die große Welt nicht, in die Boheme nicht, in die Halbwelt schon gar nicht. Sie ist nicht amüsant, sie versteht kein Gespräch zu führen, sie hat wenig gelesen, in der Gesellschaft macht sie keine Figur. Nur schön also? Dessen wird man müd. Es langweilt. Und doch, und doch . . . ein tiefer Brunnen, ein abgründig tiefes Wasser. Eine ihrer ungeselligsten Eigenschaften ist es, daß sie absolut keine Zweideutigkeiten und anzüglichen Gespräche verträgt. Dieser Abscheu, zu dem sie sich unumwunden bekennt, führt eines Tages zu offenem Zwist mit Elli und weiterhin zur Auseinandersetzung mit
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