Der Fall Maurizius
gelangt, sie hat ihm allerlei von ihrem Leben erzählt, nichts Erhebliches freilich, nichts, was ihn in ihr Inneres blicken läßt, in der Beziehung ist sie siebenfach versiegelt; sie hat Zukunftspläne mit ihm besprochen, sie beginnt sogar Interesse an seinen Arbeiten zu zeigen, wobei ihm bisweilen die stählerne Treffsicherheit einer Bemerkung in Erstaunen setzt, das alles ermutigt ihn zu einem Schritt, den er durchaus nicht überdenkt, den er einfach riskiert wie den Einsatz beim Roulette. Sie hört ihn an, sie spricht nichts, sie geht weg, er gerät in noch größere Unruhe, hat er ihre Achtung, ihre Sympathie von neuem verscherzt? Zwei Stunden später telephoniert sie, bestellt ihn auf die Promenade, erklärt sich bereit, in die Schweiz zu fahren, das Kind zu holen und es in das Heim ihrer Freundin, der Mrs. Caspot, nach London zu bringen. Sie läßt ihm keine Zeit zu fragen, sich nach Einzelheiten zu erkundigen, sie hat es beschlossen, es wird geschehen, er hat bloß das Geld zur Reise und zur Aufnahme einer Pflegerin zu beschaffen, die sie begleiten soll. Er ist starr. Eine so expeditive Art hat er ihr nicht zugetraut. Um so mehr muß er sie bewundern. Unter der Decke von Kälte, unter dem hochmütig-argwöhnischen Noli me tangere schlummern Mutterinstinkte, Mitleidskräfte, vielleicht ist ihr auch der Anlaß willkommen, ihn die Unbill völlig vergessen zu machen, die sie ihm angetan. Phantasien. Sie wollte fort, nichts anderes. Die Reisen in die Schweiz und nach England, daß er's gleich vorausschickt, sind Fluchtversuche. Nur Versuche freilich, aber doch Mittel, um Zeit zu gewinnen und auf ein hilfreiches Ungefähr zu hoffen. Gewiß, sie hat sich auch später des Kindes Hildegard mit einer befremdlichen Leidenschaft angenommen, während der ärgsten Verfinsterungen der folgenden Zeit hat sie es nicht aus dem Kreis ihrer Sorge gelassen, als ob da was Haltbares für sie wäre, ein letzter, neutraler Ort ohne Fieber und Qual, aber damals, als sie den Entschluß faßt, ist sie nur von der Angst getrieben. Die Veränderung entgeht ihm nicht. Sie ist verworren; sie lacht, wo nichts zu lachen ist, mitten in den Reisevorbereitungen, der Zug geht in einer halben Stunde, erinnert sie sich, daß sie ihre Armbanduhr in der Universitätsbibliothek liegengelassen hat, und bekommt beinahe einen Weinkrampf deswegen; mit aller Mühe beschwichtigt er sie, dringt in sie, ihm die Ursachen ihrer Verstörung mitzuteilen, sie weicht erschrocken aus, endlich, im Ton eines schweren Geständnisses, sagt sie, die Anfälle seien schuld. Seit einem Jahr sei sie verschont geblieben, jetzt fühle sie, daß sie wieder kämen, der beständige Druck im Gehirn verrate es ihr. Wahr und nicht wahr. Die Anfälle, die lernt er noch kennen, aber davon ist sie nicht so geschreckt, es ist was anderes, was ihr die Seele beengt, aber davon spricht sie nicht, das kann nicht über ihre Lippen. Er erfährt es auch lange nicht, sehr lange nicht, und als er es dann erfährt, kommt er nicht mehr dagegen auf, da ist er schon im feurigen Ofen drinnen. »Damals hätte ich vielleicht noch kämpfen können. Hätte mir einer gesagt: Wenn dir dein Leben lieb ist, fahr mit ihr fort, verbirg dich mit ihr, laß dich in deinem Land, in deiner Stadt, in deinem Haus nie wieder blicken, sei verschollen, sei tot für deine bisherige Welt, vielleicht hätt ich's getan, denn sie war mir ja schon zu der Zeit . . . Herrgott im Himmel, sie war mir ja schon . . . nein, das hat keine Worte, vielleicht hätte ich sie dazu bringen können, vielleicht, wer weiß, aber das alles geschah eben nicht, weil's nie geschieht, solcher Souffleur würde einem das Leben mitsamt dem Tod ersparen. Es muß aber gelebt werden, das ist es . . .« Er brach ab, trat zum Tisch, griff nach dem Steinkrug, goß das Wasserglas voll und trank gierig. Beide Arme auf die Tischplatte gestützt, den Kopf weit vorgeneigt, blieb er eine Weile stumm stehen.
»Also . . . Waremme«, sagte Herr von Andergast ruhig. – »Ja. Waremme.«
4
Nach einer Pause fragte Herr von Andergast (er mußte befürchten, daß Maurizius aus irgendeinem Grund, vielleicht weil seine innere Bewegung zu stark war, vielleicht weil sich ihm die Erinnerungsbilder verwischten, die Lust zu weiteren Enthüllungen verlor, und wollte ihn durch möglichst lebhafte und teilnahmsvolle Fragen über die unerwünschte Stockung hinwegbringen): »Er war also unerwarteterweise auf dem Schauplatz erschienen, wenn ich recht verstehe?« – »Sie
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