Der Fall Maurizius
Geringschätzung. Er kann sich nicht darein finden, es raubt ihm den Schlaf, es verbittert ihm seine Muße, er sieht immer die leicht zusammengezogenen Brauen über den klaren, kühlen, braunen Augen. Er geht, wie gesagt, ziemlich flüchtig über das alles hinweg. Es hat sich nicht um ein Haar anders abgespielt, als man es von tausend ähnlichen Fällen weiß. Wie er ja überhaupt, so konstatiert er, bis zu einem ganz bestimmten Punkt als Dutzendmensch ein Dutzendleben gelebt hat. Auf einmal, an dem bestimmten Punkt, bemächtigt sich seiner »das Schicksal«. Es rollt auf ihn zu wie eine ungeheure, steinerne Kugel. Drei Gedanken vorher hat man noch nicht einmal eine Ahnung von ihm gehabt, dem Koloß »Schicksal«. (»Finden Sie nicht«, fragt er in die Luft hinein, »daß das sogenannte Schicksal meist auf eine grausam schlaue Manier außer uns entsteht und sich in gewisser Beziehung auch außer uns begibt? Man tänzelt ganz idiotisch weiter, erst wenn man nicht mehr ein noch aus weiß, erkennt man mit Schrecken: Aha, das ist ›das Schicksal‹. Mir ist es so ergangen.«) Es trifft ihn wie ein Faustschlag, als ihm Anna während des Gesprächs das Wort zuwirft: Du hast dich ja verkauft. Zuerst steht er wie verdonnert vor ihr da, er fühlt sich beschimpft und mißkannt, sie scheint das häßliche Wort zu bereuen, als er sich mit dem ganzen Aufgebot seiner Beredsamkeit gegen den schmählichen Vorwurf zur Wehr setzt, hört sie ihm nicht ohne Bewegung zu. Beim Abschied reicht sie ihm die Hand. Ihre Stummheit enthält eine halbe Bitte, eine halbe Versicherung. Hat er sie überzeugt? Es ist nicht ausgemacht. Ihm ist bei der ganzen Sache keineswegs wohl. Er erkennt plötzlich mit blitzähnlicher Verzweiflung: Sie hat recht. Ein folgenschweres Erwachen. Von dem Moment an ist er gezwungen, eine Lüge mit der andern zu verkleistern, Lüge auf Lüge zu häufen, bis er darunter erstickt. Die Geschichte mit dem selbstgeschriebenen, anonymen Brief ist der Anfang von dem Weg ins Bodenlose. Hier irrte er wieder in eine seiner düsteren Betrachtungen ab und verbreitete sich über den Unterschied zwischen Wortlüge und Tatlüge, es sei ein Unterschied wie zwischen einem unter Umständen harmlosen Tuberkel und einem verseuchten Organismus. Wenn ein Mann mit einer ungeliebten Frau die Ehe schließt, darauf ruht ein Fluch, das kann er nie wiedergutmachen, es führt unabänderlich zur Selbstzerstörung, nämlich wenn es, wie in seinem Fall, die Zerstörung des andern Teils bedingt. Je sublimere Vorwände er dazu gebraucht hat, je heilloser wird das Ergebnis sein. Er dachte besonders klug zu handeln, als er Elli zum Weibe nahm, und er besaß nicht einmal die oberflächlichste Kenntnis ihres Wesens. War es kluge Berechnung, dann war es eine aufgelegte Schurkerei, gleichviel was er dabei für edle oder vermeintlich edle Ziele im Auge gehabt; war es Leichtfertigkeit und frivoler Fatalismus, so durfte er sich noch weniger über die Leiden verwundern, die über ihn verhängt wurden. Nein, zu wundern war da nichts. Vergibt sich ein Mensch und nimmt in heimlichem Vorbehalt seine Seele von der Hingabe aus, läßt sich aber, als wär es ein richtiger Austausch, die Seele des andern schenken, so begeht er ein Verbrechen, vielleicht das schwerste, das begangen werden kann. Die Schuld wird nicht um ein Jota geringer dadurch, daß man sich ausredet: Ich hab's nicht gewußt. Da heißt es: Du hast zu wissen. Da gilt im höchsten Maße der Satz: Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe. Des Gesetzes? welches Gesetzes? das in einem drinnen. Das muß man kennen . . .
Er sank gänzlich in sich zusammen, aber nur für eine halbe Minute. Während Herr von Andergast, mit einem Rest dunklen Mißtrauens noch, der moralischen Selbstzerfleischung des Sträflings nachsann (welchen abgrundtiefen Sinn bekam der Begriff Sträfling auf einmal), fuhr dieser bereits fort. Wenige Tage nach der Auseinandersetzung mit Anna erhält er das Schreiben des Schweizer Anwalts, das ihn von der Geburt seiner Tochter Hildegard benachrichtigt, auch von den Ansprüchen, die die frühere Geliebte an ihn stellt. Er weiß sie todkrank, er weiß, daß sie am Notwendigsten Mangel leidet. Er sieht sich in einem Wust von Schwierigkeiten und weiß keinen Ausweg. Sein erster Gedanke ist: Anna. Er gesteht, daß es ihn, abgesehen von seiner Ratlosigkeit, unwiderstehlich, ja krankhaft gereizt habe, Anna in diese Sache zu verstricken. Er ist mit ihr zu einem leidlich guten Einvernehmen
Weitere Kostenlose Bücher