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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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verstand. Der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft hatte ja auch bereits mit Rotstift quer darunter geschrieben: »Zur Begnadigung ungeeignet, Andergast.« Der ehemalige Ökonom und Gutsbesitzer hat keine Ahnung, wie man sich vorteilhaft insinuiert; zehn Zeilen weiter erklärt er sich bereit, dem Gericht mitzuteilen, wo sich der Zeuge Waremme, der bisher als verschollen gegolten hat, nunmehr aufhält, läßt also durchblicken, daß er sozusagen auf eigene Faust polizeilich tätig gewesen ist, welche dilettantische Einmischung kaum geeignet sein kann, seine Glaubwürdigkeit in den Augen der kompetenten Behörde zu erhöhen.
    Zum Schluß aber erhebt er sich zu theatralischer Rhetorik. Ist etwa dieser Peter Paul Maurizius eine Art religiöser Sektierer, der sich in dem naiven Glauben befindet, durch eine feierliche Evokation im biblischen Stil Eindruck auf ein preußisches Gericht zu machen? Abseits von der Lächerlichkeit der Anmaßung liegt jedoch eine unüberhörbare Wahrheit in der bombastischen Beschwörung, eine subjektive wenigstens, und da eben ist es Etzel zumut wie Hamlet, wenn aus dem Innern der Erde der Geist des Vaters zu ihm redet. Sprich, armer Geist, sagt er mit kummervoller Bestürzung. In sein Hirn ätzen sich die Worte ein, er weiß, er wird sie niemals vergessen, er wird sie zitieren können, wenn man ihn zu Mitternacht aus dem Bett reißt und ihn danach fragt, mechanisch wird er sie herplappern wie eine auswendig gelernte Stelle aus dem Bellum Gallicum: »Bei Gott und seinen heiligen Heerscharen, es ist ein Unschuldiger, der seit mehr als achtzehn Jahren lebendigen Leibes im steinernen Grabe des Zuchthauses vermodert. Er hat die Tat nicht getan, für die er ist verurteilt worden; und wenn er sie hundertmal gestanden hätte, wie er sie nicht gestanden hat, und wenn die Inzichten noch so verdammlich gegen ihn gesprochen haben, unschuldig ward sein Leben in der Blüte geknickt, unschuldig hat er das Büßerjoch auf sich genommen, das will ich künden, und dafür steh ich ein, solang noch Menschenatem in meiner Brust ist.«
    Sprich, armer Geist . . .
    3

    Törichte Finten, die Etzel in den folgenden Tagen anwandte, um die ihn beobachtenden Blicke über sich zu täuschen. Mit demselben Aufgebot an Kraft und List hätte er auch weiterhin ein zufriedenstellender Schüler sein können, statt derart zu erlahmen, daß seine Lehrer die Köpfe über ihn schüttelten. Aber das gerade vermochte er nicht. Was er bis zu einer gewissen Stunde eines gewissen Tages gewesen, dünkte ihn alt und unnütz. Es hatte sich etwas in ihm ereignet, wofür ihm selbst das Gleichnis und der Maßstab fehlten. Wenige Tage nach dem Gespräch zwischen Thielemann und Dr. Raff begannen die Osterferien, dadurch gewann er Zeit und konnte sein Verhalten für eine Weile der öffentlichen Kritik entziehen. Es blieb nur übrig, den Vater und die Rie hinters Licht zu führen, indem er den Unbefangenen spielte, den Gutgelaunten, den Aufgeweckten. Wenn er über den Flur schritt, pfiff er ein Liedchen vor sich hin; auch in seiner Stube hörte man ihn leise singen; wenn ihm die Rie begegnete, lachte er sie vergnügt an; richtete sie eine Frage an ihn, so antwortete er munter; beim Zusammensein mit dem Vater hatte er eine ganz besonders willige und gelehrige Miene des Zuhörens und eine Art, mit herzlichem Eifer zuzustimmen, mit leuchtenden Augen stummen Beifall zu spenden, ein beflissenes »Danke, ja, danke, nein« zu sagen, als trüge er sich nicht im entferntesten mit Absichten, die diesem heuchlerischen Artigkeits- und Mustersohnswesen dergestalt zuwiderliefen, daß ein mit den menschlichen Verfehlungen und überraschenden Zusammenbrüchen von Charakteren so gründlich vertrauter Mann wie Herr von Andergast bei der bloßen Andeutung an eine aberwitzige Verleumdung geglaubt hätte. Doch wenn nicht immerfort das scheinbar Unmögliche Ereignis würde, könnte ja jeder zu jeder Zeit auf das Mögliche gefaßt sein, und das Leben wäre eine einfache Sache. Vorläufig ruhte alles noch im Keim, vielleicht wußte der Knabe selbst noch wenig davon; was ich soeben als Heuchelei bezeichnet habe, war Frucht des Beschlusses, mit sich allein zu Rande zu kommen, das Dunkle mit dem Verstand aufzuhellen und sich keiner Gefühlsverschwommenheit und keiner Schwärmerei schuldig zu machen. Aber trotz aller »Orientierung nach der Seite der Geistesfreiheit«, wie er das in treuherziger wissenschaftlicher Trockenheit nannte, konnte er nicht verhindern, daß er während

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