Der Fall Maurizius
sah er aus, als ob er selbst noch Schüler wäre, klein, schlank, geschmeidig. Thielemann schaute ihm verdrießlich nach. Keinen Trotz, das gibt er gut, knurrte er vor sich hin, soll ich mich ihm etwa an den Hals werfen; Ihn kniefällig bitten, daß ich zu ihm kommen darf? Da kann er lang warten, er mitsamt seinem Andergast, an dem er scheint's einen Narren gefressen hat.
Es gibt in diesem Lebensalter unverrückbare Konventionen des Verkehrs. Sie werden um so strenger eingehalten, als sie sich ohne Worte und Abmachungen gebildet haben. Der Anlaß ihrer Entstehung ist meist ebenso zart und dunkel wie die Befolgung selbstverständlich. Solche stillschweigende Übereinkunft war, daß Etzel niemals zu Thielemanns in die Wohnung kam, sondern daß Robert ausschließlich Etzel Andergast besuchte, und nie, ohne daß er dazu von Etzel aufgefordert wurde. Nur im Thielemannschen Buchladen war Etzel ein paarmal gewesen. Hin und wieder hatte Robert eine Andeutung gemacht, aber lediglich, um den Schein zu wahren. Die Sache war die, daß er gar nicht ernstlich wünschte, Etzel möge zu ihm kommen, ja, daß er derartige Besuche geradezu fürchtete. Er hatte kein eigenes Zimmer zur Verfügung. Das Gelaß, in dem er schlief und arbeitete, teilte er mit zwei jüngeren Brüdern, mit denen er sich nicht vertrug. Das war aber nicht das Schlimmste. Es war ein Heim des Unfriedens, in dem er lebte. Zwischen Vater und Mutter herrschte beständig Hader. Sie boten ihren Kindern das triste Schauspiel von Eheleuten, die nicht zwei Minuten in demselben Raum sein können, ohne einander Bitterkeiten zu sagen und Vorwürfe zu machen. Unerträglich war für Robert der Gedanke, Etzel könne eines Tages Augen- und Ohrenzeuge davon werden. Dies erklärte zum einen Teil die Ungleichheit der wechselseitigen Beziehung. Zum andern Teil war es das Gefühl sozialer Unterlegenheit, doppelt wach und ausgeprägt bei einem ohnehin rebellisch gestimmten Gemüt. Vielfach wurzelt der Revolutionarismus eines Knaben in häuslicher Unordnung. In manchen bürgerlichen Wohnstuben ist die Zärtlichkeit seit Generationen ausgestorben. Ein Herz muß schon genial sein, damit es aus ungestilltem Hunger nach Zärtlichkeit nicht rachsüchtig wird. Geniale Herzen sind aber selten.
2
Etzel hat im Arbeitszimmer des Vaters das Gesuch des alten Maurizius entdeckt. Ein Begnadigungsgesuch. Peter Paul Maurizius, ehemaliger Ökonom und Gutsbesitzer, wohnhaft in Hanau, Marktstraße 17, stellt an den Herrn Oberstaatsanwalt das Ansuchen um Einleitung und Befürwortung der Begnadigung für seinen Sohn Otto Leonhart Maurizius, seit achtzehn Jahren und fünf Monaten Strafgefangener im Zuchthause zu Kressa. So die Betitelung der Schrift. Über das beschämende Bewußtsein, daß er sich zum Schnüffler erniedrigt hat, kommt Etzel mit einiger Rabulistik hinweg. Er empfindet zwar scharf das unehrenhaft Krumme des gewählten Weges, aber er rechtfertigt es durch die Umstände, die ihm keine Wahl gelassen haben. Es war ein animalisches Wittern und Aufspüren gewesen. Der Mann mit der Kapitänsmütze hat dabei eine Rolle gespielt wie der Geist im Hamlet. Gib mal gut acht bei dir zu Hause, haben seine kleinen boshaften beharrlichen Augen gesprochen, gib acht, und du wirst was finden. Bei dieser Mahnung schwebt ihm jedesmal zugleich die Briefschreiberin in der Schweiz vor. Gern möchte er den Brief lesen, insgeheim hofft er, ihn in einer Lade, einer Mappe zu finden. Gib acht, du wirst was finden, das läßt ihn nicht los. Die gebieterische Hand des Trismegistos zeigt sich in der Nacht, leuchtende Plastik in der Dunkelheit. Das Bild von der Dynamitkiste im Keller nähert sich der Wirklichkeit immer mehr. Doch gibt es noch lästigere Signale. Ein papierenes Gespensterwesen geht von dem mit Schriften und blauen Heften beladenen Schreibtisch des Vaters aus und verbreitet sich durch alle Räume. Die Aktengespenster rumoren in der Andergastschen Wohnung schon lange, nur für Etzels Ohren vernehmbar, ein raschelndes, namenloses Schattenvolk, nur für seine Augen zu sehen, die in manchen Stunden Schatten besser wahrnehmen als Körper. Seine Empfindlichkeit in diesem Punkt hat Züge von Hysterie. Es ist Gefahr vorhanden, daß die stete Beschäftigung mit Verdecktem und Verstecktem seinen Geist mit Zwangsvorstellungen füllt. Aber da er einmal als Mensch mit dem Funken in der Seele geboren ist, Gott weiß, woher ihm der kam, in dem Bezirk aufwachsend, wo menschlicher Frevel und Irrtum in allen Graden und
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