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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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einer Unterrichtsstunde wie in ein tiefes Wasser hinuntersank, worin er mit allen seinen »aufhellenden« Gedanken ersoff, daß das halbtagelange Auf-der-Bank-Sitzen und sich einer Gegenwart gehorsam anpassen, die ihm auf einmal nicht mehr Raum bot als eine Erbse, schließlich doch über seine Kraft ging. Ja, auf einer Erbse hätte er eher Raum gehabt als in diesen Stuben, bei diesen Männern, mit dieser aufkeimenden, ungeheueren Pflicht in seiner Brust. So kam es, daß er auf der Straße pedantisch die Saumsteine des Gehsteigs entlangschritt, ohne von der schmalen Linie abzuweichen, nur weil er das »Denken« ersticken wollte, weil »Denken« vorerst zu nichts führte. Alleebäume wurden gezählt, gerade Zahl bedeutete: abwarten, ungerade: keine Zeit verlieren. Aber warten? worauf? Keine Zeit verlieren: in welcher Hinsicht? Was sollte getan werden? Was zunächst? Was später? Was konnte überhaupt getan werden? Wer wußte darüber Bescheid? Von wem war Rat zu holen? Wem konnte man sich anvertrauen? Wer würde nicht lachen, sich ausschütten vor Lachen und sagen: Unsinn, Junge, was ficht dich an! Was nimmst du dir heraus! Du bist wohl närrisch geworden, sieh zu, ob dein Hirnkasten kein Loch hat! Also im Ernst, wer war da, an wen sich wenden? Es ließ sich vorstellen, daß ein sehr edles junges Weib verstehen würde, was er wollte und vor welche Entscheidung er mit unabwendbarer Notwendigkeit langsam gedrängt wurde. Doch er kannte kein sehr edles junges Weib. Die Welt, die er kannte, war in dieser Beziehung entgöttert; was ihm an Frauen und Mädchen vor Augen kam – die Großmutter ist ohne Geschlecht –, war so verächtlich wie die Wachsköpfe in den Friseurauslagen. Es ist, in diesem Betracht, eine armselige Welt, eine männische Welt, in der kein Orpheus da war, um Eurydike von Hades und Persephone loszubitten. Jedoch man braucht Beistand, Rückhalt, Belehrung, praktischen Behelf, sonst wird alles total vernunftlos und findet sein Ende noch vor dem Anfang. Und Etzel marschiert in seiner Stube auf und ab, die linke Faust gegen die Brust gedrückt, die rechte Hand in die Hosentasche versenkt und mit Taschenmesser und Schlüsseln klappernd wie ein Kassenbeamter; er überlegt, sein Gehirn glüht und arbeitet in Bildern, obwohl er von ihm fordert, daß es ausschließlich logische Gedanken produziert. Es gelingt aber nicht immer, das Denkinstrument zu seinen naturgegebenen Funktionen zu zwingen. Er rechnet aus, daß achtzehn Jahre und fünf Monate zweihunderteinundzwanzig Monate sind oder annähernd sechstausendsechshundertdreißig Tage, notabene sechstausendsechshundertdreißig Tage und sechstausendsechshundertdreißig Nächte. Man muß das trennen, Tage sind eines, Nächte sind ein anderes. Aber bei diesem Punkt des Exempels sieht und faßt er nichts mehr, übrig bleibt nur eine nichtssagende Ziffer, es ist, als stehe er vor einem Ameisenhaufen und schicke sich an, das krabbelnde Geziefer zu zählen. Er will sich vorstellen, was es bedeutet: sechstausendsechshundertdreißig Tage, er will sich den Begriff verschaffen. Er denkt sich also ein Haus mit sechstausendsechshundertdreißig Treppenstufen; zu schwer. Eine Zündholzkiste mit sechstausendsechshundertdreißig Zündhölzern; hoffnungslos. Einen Geldbeutel mit sechstausendsechshundertdreißig Pfennigen; es gelingt nicht. Einen Eisenbahnzug mit sechstausendsechshundertdreißig Waggons; es wird nicht wirklich. Ein Buch mit sechstausendsechshundertdreißig Blättern (wohlgemerkt: Blättern, nicht Seiten; die Seiten jedes Blattes entsprächen dann dem Tag und der Nacht). Hier kann er zu einer Anschauung gelangen; er holt einen Stoß Bücher aus dem Regal; das erste hat hundertfünfzig Blätter, das zweite hundertfünfundzwanzig, das dritte zweihundertzehn, keines mehr als zweihundertsechzig, er hat es überschätzt, er stapelt dreiundzwanzig Bände aufeinander und kommt dann erst auf viertausendzweihundertzwanzig Blätter. Da ließ er es, mit staunenden Augen. Und zu denken, daß jeder Tag, der ihm verging, auch dort einen hinzutat! Sein eigenes Leben, es betrug kaum fünftausendneunhundert Tage, und wie lang kam es ihm vor, wie langsam floß es dahin, eine Woche war oft wie ein mühseliger Marsch auf der Landstraße, mancher Tag klebte wie Pech am Leib, man kriegte ihn nicht los, und das Gleichzeitige nun: während er schlief und las und zur Schule ging und seine Spiele trieb und mit Menschen redete und dies und jenes plante und es Winter war und Frühling war, die

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