Der Fall Maurizius
nein?«
Ein stumpfer Tierblick aus den wasserblassen Augen war die Antwort.
5
Über Warschauers käsiges Gesicht flackerte ein schwaches Lächeln. Er hatte nicht mehr die Kraft, sich des wie außer sich auf ihn zudrängenden Knaben zu erwehren. Er nahm ihm sanft die Brille aus der Hand und legte sie auf den Stuhl. Er streichelte die Schulter, den Rücken, die Hüfte des schönen, schlanken Körpers, dabei klapperten ihm die Zähne. »Nu ja, nu ja, sie hat geschossen«, sagte er mit einer Art von greisenhafter Nachgiebigkeit, »wenn dein Herz dranhängt, Mohlchen, warum soll ich dir's verschweigen . . . Ja, sie hat geschossen . . . was blieb ihr denn anders übrig . . .« Etzel umkrampfte mit beiden Händen Warschauers Rechte. Er glitt auf das Bett zurück, ohne die Hand des Mannes loszulassen. Es war wie eine Glücksbetäubung. In leidenschaftlicher Begierde bohrte er den Blick in die wasserblassen Augen. Er hatte das Gefühl, solang er ihn im Blick hielt, konnte der Mann nicht entrinnen. Warschauer setzte sich auf den Bettrand, und hie und da die Lippen fletschend und mit dem Kiefer malmend, in demselben greisenhaften, fast schlabbrigen Ton berichtete er die Einzelheiten des Vorgangs. Daß sie umstellt war. Daß sie vollständig den Kopf verloren hatte. Drei Bluthunde hinter ihr her, der Schwager, die Schwester und er, Waremme. So sah sie es: drei Bluthunde. Sie wußte nicht mehr aus noch ein. Den Revolver hatte er ihr am Nachmittag gegeben. Er hatte ihr gesagt: Man kann nicht wissen, was passiert, es ist für den äußersten Fall. Er hatte nicht überlegt, daß sie sich in ihrer Verzweiflung auch selber damit umbringen konnte. In der Tat war sie nah daran. Sie gestand es ihm später. Es war sein magnetischer Wille, der sie im letzten Moment davon abhielt. Geahnt hatte er etwas dergleichen. Er ging eineinhalb Stunden vor den Fenstern auf und ab. Er war gar nicht im Kasino. Er war eine Stunde früher als gewöhnlich von dort weggegangen. Die betreffenden Zeugen hatten sich geirrt oder waren durch seine nachträgliche Behauptung irregeführt. Er ging also in der Dunkelheit unter den Fenstern der Seitenfront auf und ab, er behielt die erleuchteten Fenster des Zimmers im Auge, er konnte bisweilen ihren Schatten sehen. Es war eine Erfahrung, der er vertrauen durfte, wenn er seine Gedanken fest auf sie richtete, verfiel sie unmittelbar seinem Einfluß und verlor ihren Willen an ihn. Sie mußte aber durch das halbgeöffnete Fenster das Rascheln seiner Schritte im dürren Laub gehört haben. Das trieb ihre Angst auf den Gipfel. Sie setzt sich ans Klavier, spielt irgendein Stück, bricht wieder ab, stürzt ins Treppenhaus, telephoniert ihm, Waremme, in seine Wohnung, ins Kasino. Vergebens. Um Gottes willen, Elli, schreit sie dann in ihrer Herzensangst die Treppe hinauf, dein Mann kommt, komm herunter, sonst geschieht ein Unglück. Daraufhin rast Elli die Treppe herunter, auf die Schwester los wie eine Tolle, packt sie am Hals und zischt ihr zu: Verschwinde augenblicklich oder ich erwürge dich. In dem Moment klappt die Gartenpforte zu, Elli fliegt hinaus, und Anna, in der jeder Blutstropfen wie verwest ist, taumelt ihr nach. »In dem Moment trat ich hinter dem Haus gegen die Treppe vor«, schloß Warschauer, »in dem Moment, als der Schuß fiel. Was weiter geschah, ist nicht mehr interessant. Es stimmt so ziemlich mit den sattsam durchgekauten Fakten überein. Den Revolver hab ich natürlich an mich genommen und verschwinden lassen.« – »Aber zuerst sind Sie mit dem Revolver auf Maurizius zugegangen?« fragte Etzel atemlos. – »Ja.« – »Damit es den Anschein haben sollte, Sie hätten ihm die Waffe aus der Hand gerissen?« – »Ja. Selbstverständlich. Exzellente Bemerkung.« – »Aber wie war es möglich, daß die Anna Jahn ihn hat verhaften lassen, verurteilen lassen, wie ist es möglich, Professor, daß die ganzen neunzehn Jahre . . . ich kann's nicht fassen . . . wie hat sie's über sich gebracht? wie kann das ein Mensch?« – Warschauer blickte schief zu Boden. »Das . . . ist ein Geheimnis ihrer Natur. Darüber kann ich nur mangelhaften Aufschluß geben. Ich sagte es schon: Ich hatte mit einer Leiche zu tun. Einer Leiche, die ich galvanisieren mußte, damit sie Leben vortäuschte. Ich ließ sie nicht aus den Augen. Während der ganzen Voruntersuchung, als sie im Süden war, blieb ich in ihrer Nähe . . .« – »Aber nachher, nachher, die vielen Jahre nachher? Professor! Professor! denken Sie doch!« –
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