Der Fall Maurizius
Geistern empfängt. Das Gewissen allein hielte vielleicht nicht stand, der Ruf bewirkt es, ob er vom Himmel oder von der Hölle kommt, weiß man nicht, während man gehorcht. Den schwarzen Stern, den sieht man nicht. Schuld . . . ja, gewiß . . . Schuld ist ein unergründliches Relativum, eine Zauberkugel, in der sich nur spiegelt, wer das jüdisch-christliche Abrakadabra dabei aufsagt. Heut sieht es aus wie Schuld. In manchen Stunden . . . in manchen Nächten . . . man wird schwach unter dem wechselnden Mond. Hätt ich ein Reich gewonnen, das Reich von dieser Welt, wie es einmal den Anschein gehabt hat, daß es sein könnte, wäre keine Schuld an mir. Sie wäre ausgeglichen. So hat man eben verspielt. Sollte es wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde geben, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt? Oder, um das Wort zu erweitern, von denen sie sich nur träumen läßt? In manchen Nächten –? Mohl, Mohl, ich fürchte, wir sind allzumal jämmerliche Kreaturen, alle aus dem nämlichen Holz geschnitzt, alle für den Wurmfraß gerade gut genug. Triste Erkenntnis. Tristes Finale.«
Er setzte sich wieder auf den Bettrand (Etzel hatte sich indessen bis zum Hals zugedeckt), ergriff die Hand des Knaben und sagte: »Ich habe keinen Anstand genommen, Ihnen reinen Wein einzuschenken, da Sie doch mal Ihre Seele drangesetzt haben. Warum sollt ich Ihnen den Gefallen nicht tun? Praktischen Wert hat es für Sie keinen, der Meineid ist längst verjährt. Gott . . . ja . . . am Ende wär mir auch das gleichgültig, für mich ist nichts mehr von Belang in diesem Leben. Prüfe ich mich genau, so bin ich in dem Punkt gänzlich desinteressiert. Aber ich möchte das Lenkrad noch eine Weile in der Hand behalten. Machen Sie sich also keine übertriebenen Hoffnungen. Auch wenn Sie mein Geständnis vor den Kadi bringen, wird es Ihnen nichts nützen. (Er schmatzte schadenfroh mit den Lippen.) Der Mechanismus eurer Gerichte ist so verrostet, daß man sich schwer hüten wird, eine sakrosankte Justizleiche aus dem Grab zu schaufeln, weil ein siebzehnjähriger Feuerkopf Lärm schlägt, und außerdem bin ich immer noch der Mann, der sich selber sein Gesetz gibt und nicht einer verspäteten Passion zuliebe ridikülerweise seine bürgerlichen Aussichten aufs Spiel setzt, mögen es noch so schofle Aussichten sein. Denn eine Passion hab ich für Sie, das will ich offen bekennen, Junge. Es wäre undankbar gegen das Geschick, wenn ich's nicht täte. Sie haben mein verwelktes Herz in Ihre beiden Hände genommen und es gelegentlich und ohne daß ich's verhindern konnte in ein wunderliches Licht hinaufgehoben. Dem Verdienst seine Krone. Nichts für ungut, Mohl.« Er stand auf. »Ich werde übrigens von der hiesigen Bühne demnächst wieder abtreten. Irgendwo im polnischen Oberschlesien lebt eine Tochter von mir, ich habe sie seit dreiundzwanzig Jahren nicht gesehen, sie soll an einen Verwaltungsbeamten verheiratet sein, nach der will ich mich mal umschauen, Sie wissen ja: gen Osten, gen Osten. Vielleicht find ich dort eine Art Ruheplatz. Eine Art Altersheim. Und Sie werden doch begreifen, daß ich dazu einen halbwegs sauberen Namen mitbringen muß. Das können die Leute von mir verlangen. Aber wenn Sie mich daselbst zum zweitenmal zu finden wissen, Sie glühender kleiner Fahnenjunker Sie, dann bin ich vielleicht zu gültigem Zeugnis bereit, falls es sein muß. Dann, möglich ist alles, helf ich Ihnen am Ende, der maroden Justitia unter Preisgabe meines unwürdigen Ichs Beine zu machen. Pereat Warschauer, fiat mundus. Sehen Sie nur zu, daß Sie eine halbe Stunde vor meinem Hinscheiden zur Stelle sind.« Mit trockenem Auflachen griff er nach Hut und Mantel. »Na, 's ist wieder mal spät geworden. Au revoir, junger Mohl. Morgen will ich mich wieder erkundigen, hoffentlich sind Sie dann gesund. Wie komm ich aus dem Hause?« – Etzel schlüpfte in sein Nachthemd und erwiderte: »Man kann durch die Gastwirtschaft gehen, da ist immer offen.« Seine Stimme klang so verändert, daß Warschauer stutzte und sich noch einmal umdrehte. Dieselbe Veränderung zeigte auch Etzels Miene, eine kalte, klare Bestimmtheit. – »Hm. So«, machte Warschauer und ging. Etzel hörte noch, wie er sich durch Melittas finstere Stube tastete, dann klappten noch zwei Türen, dann war es still.
Er lag auf dem Rücken und schaute in die Luft. Er fühlte sich so leicht wie eine Flaumfeder, so erdlos. Aber die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, die waren schwer und
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