Der Fall Maurizius
Warschauer ließ die Augen über die Wand gleiten, als wolle er die von den Wanzen verursachten Blutspritzer zählen, plötzlich sah er Etzel fest, mit unheimlich zusammengezogenen Brauen ins Gesicht und sagte: »Es geht sehr tief. Man kann das Gewebe dieser Seele kaum überblicken. Meine Einflußmacht traf in dieser Richtung auf eine schon vorhandene Entschlossenheit. Ich werde jetzt etwas sagen, was außer Ihnen und mir niemand auf der Welt weiß. Es mag zunächst scheinen, daß es etwas sehr Gewöhnliches ist, aber im Hinblick auf die Person, um die es sich handelt, ist es etwas Außerordentliches. Es ist eben das, was mich zum letzten Schiedsrichter gemacht hat. Als ich den Sachverhalt begriff, war mir, als hätte mich ein Gigant gepackt und mir das Rückgrat gebrochen. Nämlich, sie hat den Menschen geliebt, das war es. Sie hat ihn unsinnig geliebt. Sie hat ihn so geliebt, mit einer so furiosen Leidenschaft, daß ihr Gemüt sich verfinsterte und unheilbar krank wurde. Das war das Äußerste für sie, diese Liebe, es war der Sprung in den Orkus. Und er, er wußte es nicht. Er hatte nicht einmal die Ahnung. Er seinerseits liebte nur, der Unselige, aber er bettelte und warb und winselte noch, indes sie schon . . . nun ja, in den Orkus gesprungen war. Daß er es nicht wußte, verzieh sie ihm nicht. Daß sie ihn so über alles Maß liebte, verzieh sie ihm ebenfalls nicht und verzieh sie sich selber nicht. Dafür mußte er seine Strafe leiden. Er durfte nicht mehr auf der Welt sein. Daß sie die Schwester erschossen hatte um seinetwillen, durfte niemals, unter keinen Umständen, ein Weg von ihm zu ihr werden. Sie hatte sich ein Aberrecht gebaut, darin mauerte sie sich ein. Sie schuf sich seinen Tod, sie schuf sich seine Sühne, sie war sein grausamster Verfolger und machte sich selber, um sein Leben und seine Strafe mitzuleiden, zur seelenlosen Lemure. Außerdem war ein bürgerlicher Stolz in ihr und eine bürgerliche Feigheit zugleich, die man kaum wieder in einem Wesen derartig verquickt finden wird. Die Zeit, die solche Geschöpfe zur Hochblüte trieb, ist ja vorüber. Als sie zum erstenmal ihren Namen in Verbindung mit der ganzen Affäre in der Zeitung las, wobei man sie doch behandelte wie ein rohes Ei, hatte das eine sonderbare Wirkung auf sie: Stunden und stundenlang wusch sie sich die Hände und empfand einen Ekel, der in alle Grade stieg bis zu konvulsivischen Schaudern. Nein, Mohl, diesen Charakter können Sie nicht verstehen, und schließlich muß ich sagen, der Himmel bewahre Sie auch davor, ihn zu verstehen. Heidnisch wild und albern bigott, voll Hoffart und voll Selbstuntergrabungswut, keusch wie ein Altarbild und von einer mystischen, urwaldhaft dunklen Sinnlichkeit durchflammt, streng und zärtlichkeitshungrig, verriegelt, die Riegel hassend, den hassend, der sich dran vergreift, und den, der sie respektiert, vor allem aber: unter dem schwarzen Stern. Es gibt viele Menschen, die unter dem schwarzen Stern gehen. Lichtlose. Sie wollen ihr dunkles Fatum und locken's an sich und fordern es so lange heraus, bis es sie zertritt. Sie wollen zertreten sein. Sich nicht beugen, sich nicht hingeben, zertreten sein. So war das mit ihr. Schön, das wäre gesagt. Nur Geduld, Mohl, ich komme schon zu dem, was Sie eigentlich von mir zu hören wünschen. Der Eid . . . ich weiß, ich weiß . . .« Er erhob sich, stieß gegen den Stuhl, die Brille fiel herunter, er bückte sich, schaute sie prüfend an, das eine Glas war zerbrochen, er nickte und schob sie in die Tasche. Dann schritt er zum Fenster, schaute eine Weile in die Regennacht empor, kehrte zurück. »Der Eid war nichts weiter als eine Sache der Haltung und eine technische Konsequenz. Es ist schwer, mit einem gebrochenen Rückgrat Haltung zu bewahren, aber item, es mußte sein. Ich stand auf einer Trümmerstätte, wer als letztes Opfer noch zu fallen hatte, darüber gab es keinen Zweifel. Für mich wenigstens nicht. Ich hatte nicht Menschenwert gegen Menschenwert abzuwägen, die Frage hieß: wo ist in der vollständigen Finsternis noch ein Schimmer von Zukunft und was ist aus dem Debakel zu retten? Zwischen mir und dem Leonhart Maurizius war ein Duell auszufechten, kein ritterliches allerdings, ein Schicksalsduell. Schicksal wider Schicksal. Wenn ich Sieger in dem Zweikampf blieb, so war es Schicksalsentscheidung. Glauben Sie nicht, daß man das mit dem starken Gewissen alleine macht, es gehört auch das magische Zeichen dazu, das man von den unsichtbaren
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