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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Sie mir beweisen, daß in einem einzigen dieser Fälle ein Hahn danach gekräht hat, ein symbolischer Hahn natürlich, ob der Gerechtigkeit Genüge geschehen ist, wie der Fachausdruck lautet, so zahl ich 'nen Taler. Sie haben das Malheur einer Inspiration gehabt, lieber Mohl, so sagten Sie doch. Sie hätten sieben- bis siebzigtausend ähnliche Inspirationen haben können, warum gerade die? Sie belasten eine Zufallsentdeckung mit zu viel Selbstverantwortung. Sie übernehmen sich. Sie verschwenden Leben, Geist, Kraft und Zeit an eine verlorene Sache, eine tote Angelegenheit. Wer ist Maurizius? Wer schiert sich um Maurizius? Was für einen Unterschied macht es aus, ob er im Zuchthaus oder in einer Mietswohnung sitzt, ob er schuldig oder unschuldig ist? Wie heißt's bei Goethe: Am Jüngsten Tag ist's nur ein Furz. Dafür das großartige Wort Gerechtigkeit bemühen, bei einem solchen Weltzustand, das nenn ich meiner Treu mit einer Dampfmaschine eine Kaffeemühle betreiben.«
    Aus Etzels Gesicht war alle Farbe gewichen. Seine Lippen bebten, das Kinn bebte, Schauer überliefen ihn von oben bis unten, mit glühenden Augen verschlang er den Mann da vor ihm. Er brauchte sich nicht krank zu stellen, er war es in diesem Moment, war es an Herz und Seele, krank vor zorniger Verachtung, vor rasender Enttäuschung und Erbitterung. Er machte eine sinnlose Gebärde, als wolle er dem Menschen was er fühlte ins Gesicht werfen, wie man in der Wut einen Stein aufhebt, um ihn nach dem Beleidiger zu werfen, dann stammelte er, indem er sich auf seinem Bett hin und her wand: »Aber das ist ja . . . das ist ja . . . unglaublich ist das ja . . . das kann einem ja kein Mensch glauben . . . so was Verruchtes . . . nein, so was Scheußliches . . . das soll man sich anhören . . . das wollen Menschen sein . . . redet, redet . . . o Gott, o Gott . . . das will ein Mensch sein . . . er soll fortgehn, der Mensch . . . adieu . . . er soll weg . . .« – »Mohl!« rief Warschauer in ehrlichem Schrecken. Diese Wirkung hatte er offenbar nicht erwartet. – »Wasser«, ächzte Etzel. – »Ja, gewiß, sogleich, mein Lieber Teurer«, murmelte Warschauer bestürzt und fuhr tapsig in der Stube herum, nach einer Wasserflasche suchend. Endlich fand er sie, schenkte ein, brachte das Glas. Etzel stieß einen tiefen Seufzer aus und lag steif in den Kissen. »Na, na, na«, machte Warschauer, »was gibts denn, Lieber, Guter, faß dich, Mohlchen, sich mich an, schau deinen Freund an . . .« – »Heiß«, flüsterte Etzel, »schlecht . . .« – »Ja, gewiß, Söhnchen, gewiß«, er tastete den Körper des Knaben ab, »freilich . . . heiß . . . wir werden dir einen Umschlag machen . . . das Fieber natürlich . . .« In der Tat fühlte sich der ganze Körper an wie die Kacheln eines überheizten Ofens. Geheimnisvolles Phänomen, denn in Wirklichkeit hatte Etzel kein Fieber. Vermochte er so Ungeheures über seine Physis, daß er sie durch einen seelischen Affekt einfach mitreißen konnte? Nur weil er den Augenschein für den andern brauchte? Was war da noch Verstellung, was letzte heroische Anstrengung und Preisgabe? Wie ein wahnwitziger Wettläufer rannte er zum Ziel, besinnungslos mitten in eiskalter Besinnung. Warschauer tauchte ein Handtuch in den gefüllten Wasserkrug, wand es aus, so daß nur die satte Feuchtigkeit blieb, kehrte zum Bett zurück und streifte dem Knaben das Hemd ab. Etzel hielt still, lag steif da, rührte sich nicht. Als er den nackten Jünglingsleib vor sich sah, versank Warschauer in starre Betrachtung. Seine Hände zitterten. Hinter den Brillengläsern lohte es unheimlich auf wie von zwei winzigen, schwarzen Flämmchen. Er öffnete den Mund. Er sah aus wie ein Verhexter, der ein Gebet angefangen hat und nicht weiter weiß. »Menschlein«, flüsterte er, »Junge du . . .« – Da schien Etzel zu erwachen. Hastig packte er mit beiden Händen beide Arme Warschauers. Schaute ihn an, mit einem unsäglichen Blick, kühn, wild, flehend, herrisch. Ließ die Arme los, richtete sich auf seinen Knien auf, krallte die Finger in die Schultern des Mannes. Ließ die Schultern los, griff nach der Brille, riß sie herunter. Hielt die Brille in der Linken wie eine Trophäe. Nackt mit der Brille in der Hand kniend sagte er: »Ich will alles wissen. Hören Sie? Ich will wissen, wie das war mit dem Gott aus der Maschine, Sie dürfen's mir sagen. Ich bin's wert. Also, Professor, wer hat geschossen? Hat sie geschossen, die Anna Jahn? Ja oder nein? Ja oder

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