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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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was Welkes, das unvergleichlich Fragile der Neunzehnjährigen hatte sich in etwas kränklich Gebrechliches verwandelt, das seelenhaft Leidende in das Wohlhäbig-Wehleidige, das in gegebenen, bürgerlichen Sicherheiten gedeiht. Äußerer Anschein, der schon alles verriet, alles Folgende fürchten ließ, jede Unterhaltung überflüssig machte, aber Maurizius wünschte nicht zu sehen, was er doch mit unheimlicher Schärfe wahrnahm; er hatte sich langsam umgedreht und stand, mit hängenden Armen, erschüttert da. Jetzt weinen können, dachte er, jetzt hinknien und weinen. Alles sagen, alles fragen, alles vergessen und weinen, weinen, weinen.
    Jedoch Anna Duvernon war so weit von solchen Regungen entfernt wie davon, sie zu begreifen. Ihre Stimme war so leise, daß es fast nur ein Zischen war, als sie sagte: »Sie können natürlich nicht bleiben, ich bin hergekommen, weil . . . es muß ja verhindert werden, daß . . . Ein Glück, daß Sie nicht den richtigen Namen . . . auch so ist es noch riskant genug. Wie konnten Sie nur . . . Ich bin derartigen Aufregungen nicht gewachsen. Von der Entlassung habe ich in der Zeitung gelesen. Daß Sie hierher . . . das konnte ich nicht voraussehen. Was . . . handelt es sich um was Bestimmtes? Sagen Sie es rasch, ich muß gleich wieder fort. Unten hab ich gesagt, es ist ein Geschäftsfreund meines Mannes, mit dem ich etwas verabreden soll.« – Maurizius nahm die Brille ab und blickte die Frau schweigend an. Sie senkte die Augen, legte die Stirn in harte Falten. »Es hat ja keinen Zweck«, murmelte sie unwillig und etwas bedrückt. – »Es scheint so«, gab er zu, ohne den strengen Blick von ihr abzulassen, »es hat vielleicht keinen Zweck.« – »Ich habe mit der Vergangenheit gebrochen«, fuhr sie in ihrer zischelnden Manier fort und spähte bisweilen ängstlich nach den Türen links und rechts. »Sie wissen nicht . . . Noch vor ein paar Jahren . . . aber wozu in den entsetzlichen Erinnerungen wühlen. Das Gebet hat mir geholfen. Man muß die moralische Kraft haben, sich von der Vergangenheit zu befreien. Und dann . . . ich habe Kinder . . . das Leben . . . die Pflicht . . . zuoberst steht die Pflicht . . . wenn man das einmal erkannt hat . . . Sie verstehen . . . – »Ja. Gewiß«, sagte Maurizius. Was ist das? grübelte er betroffen, was redet sie? hör ich das alles wirklich oder bild ich mir's nur ein? Was für ein Mensch ist denn das? »Ich darf Sie wohl nicht bitten, einige Minuten Platz zu nehmen?« fragte er scheu, »es wäre da einiges . . .« – »O Gott, nein«, wehrte sie erschrocken ab, doch sichtlich durch seinen Ton und sein ganzes Wesen von einer Angst befreit, die bis jetzt auf ihr gelastet und die hektische Fahrigkeit in ihr erzeugt hatte. Der Krampf ließ nach, obschon ihr das Beisammensein mit dem Mann noch immer äußerst peinigend war. Offenbar hatte sie eine stürmische Auseinandersetzung erwartet, Ergüsse, Bedrängung, Inquisition, Forderung, Friedensbruch, Gefährdung aller Bestände, die Angst hatte sie hergejagt, das Fürchterliche abzuwenden war mehr eine entsetzte Zwangsbewegung gewesen als Wille oder Plan, nun sah sie mit dem weiblichen Instinkt, der eine schützende Position schneller, gewahrt und ausnützt als eine bedrohliche verteidigt, daß sie von diesem Menschen nichts zu fürchten hatte, das machte sie sofort in einer dünkelhaften Weise sicher. Da war keine Gewissensunruhe, keine aufrüttelnde Erinnerung mehr, höchstens ein vages Flattern zerrissener Bilder, irgend etwas Zerstampftes und Verwestes, von jeder intelligiblen Kraft entleert, von keinem Blutstrom mehr getragen, gedächtnislos, als ob wer Fremdes erlebt hätte, aufbewahrt im Magazin entlegener Jahre, nicht mehr wahr, nicht mehr da, verkalkt, gestockt, geronnen. »Es ist wegen Hildegard«, begann Maurizius, »ich wollte Sie um Rat und Beistand ersuchen . . . ich war dort in Kaiserswerth bei jenen Leuten . . . man hat mich nicht einmal vorgelassen . . . das Kind ist fortgeschafft worden . . .« Anna Duvernon hob die Schultern in die Höhe: eine Gebärde, als hätte er hunderttausend Mark von ihr verlangt. »Damit hab ich absolut nichts zu tun«, fiel sie ihm hastig ins Wort. – »Ich könnte mit allem andern abschließen, der eine Anspruch bleibt offen«, bemerkte er finster. – »Sie wenden sich aber an die falsche Adresse. Darüber hat der Vormund zu bestimmen. Ich habe mich seit Jahren zurückgezogen. Die Verantwortung war zu groß.« – Maurizius hatte während der Strafzeit

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