Der Fall Maurizius
die Gewohnheit angenommen, den, der zu ihm sprach, aufmerksam zu betrachten und, wenn der andere zu sprechen aufgehört hatte, ihn noch sekundenlang stumm anzuschauen, bevor er seinerseits mit melancholisch abirrendem Blick und einer gewissen Bemühung, als müßte er sich durch eine Wand hindurch verständlich machen, zu reden anfing. »Verantwortungen werden immer dann zu groß, wenn man sich ihnen entziehen will«, gab er zurück. – Das Aphorisma ging über die Fassungsgabe der Dame Duvernon. Sie hörte nicht die Bitterkeit heraus, sondern nur die Resignation. Plötzlich deutete sie alles, was er sagte, zum Guten, d. h. zu ihren Gunsten aus, vielleicht weil sie bis jetzt so leichtes Spiel gehabt und weil ihr der Mensch so entlegen schien wie seine Sache. Denn es war in keiner Weise mehr »ihre Sache«, nichts, was mit ihm zusammenhing, sie wunderte sich sogar, daß es einmal, in ferner Zeit, »ihre Sache« gewesen war. Es sah aus, als begreife er ihren Standpunkt, infolgedessen fand sie ihr Bleiben nicht länger für notwendig und suchte nach einem schicklichen Vorwand, sich zu verabschieden. Es war kein Wagnis mehr. Was wie schweres Unheil begonnen und sie aus dick umkrusteter Ruhe aufgescheucht, endete zu ihrer unsäglichen Erleichterung wie ein harmloser Zwischenfall, das erfüllte sie mit einer Art von Dankbarkeit, ein Prozeß, so primitiv wie die Habsucht einer alten Bäuerin oder wie die Berechnungen eines abergläubischen Spielers. »Man muß das Leben nehmen, wie es ist«, sagte sie mit einem Anflug von Wärme, der allerdings zu schwach war, um die trostlose Plattheit des Gemeinplatzes zu mildern, »man kämpft eben, nicht wahr? mit Selbstvertrauen besiegt man die Schwierigkeiten. Selbstvertrauen und Gottvertrauen, beides ist nötig. Wir haben ja auch schlimme Zeiten hinter uns. Wer diesen Krieg nicht durchgemacht hat . . . aber sehen Sie, so furchtbar es war, mir hat es geholfen. Es hat mich moralisch gefestigt. Nicht bloß moralisch, auch für die Nerven war es heilsam. Eine richtige Kur. Früher war ich so anfällig . . . Ein unbedachtes Wort von irgendeinem Menschen konnte wie Gift auf mich wirken. Jetzt . . . Es ist nämlich das: wenn das ganze Volk, wenn die Menschheit leidet, vergißt der einzelne seine egoistischen Interessen, man wird demütiger, kleiner, nicht wahr?« – »Natürlich. Das versteh ich ausgezeichnet.« (Was ist das? grübelte Maurizius in hohler Verwunderung, was spricht sie da? Was ist das denn? Was will sie denn? Warum spricht sie überhaupt? Was soll denn das alles?) – »Nun muß ich gehen. Habe mich ohnehin schon verspätet. Wir haben Gäste . . . Leben Sie wohl.« Zögerndes Heben der Hand. Maurizius schien es nicht zu sehen. Er verbeugte sich pagodenhaft. Worauf Anna Duvernon hinzufügen zu sollen glaubte: »Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute und Schöne.« – Das war nun doch wie ein Stoß ins Genick. Alles Gute und Schöne, prächtig, prächtig, wo befinden wir uns eigentlich, hochgesinnte Gönnerin? Seine Stimme sagte in tonlosem Hohn: »Ich danke Ihnen.« Da war sie fort.
Alleingeblieben drückt Maurizius beide Hände mit verflochtenen Fingern an die Stirn. So steht er eine Weile starr. Barmherziger Himmel, fährt es ihm durch den Kopf, sie ist ja dumm! schlechtweg dumm. Abgründig dumm. Schönheit, Seele (oder was Seele zu sein schien), Anmut, Reiz, dämonische Verdunkelung, Leidenschaft und Leidensfähigkeit, alles nur mit dünnem Pinsel aufgetragene Deckfarbe, die Jahre haben sie weggewaschen und den kahlen Urgrund bloßgelegt, die Natur hat ihre eigene Lüge enthüllt, nichts von Herz, keine Schicksalsdurchdringung, kein Strahl aus höherer Welt, nur Papeterie, nur Attrappe, nur dumm, dumm wie die Stehngebliebenen, wie die vielen Gestorbenen des Lebens, die den eigenen Geistes- und Herzenstod nicht erkennen, dumm wie ein Gespenst . . . Und weswegen alles! deswegen! barmherziger Gott, deswegen Opferung und Martyrium, deswegen Marter und Zermalmung, deswegen neunzehn Jahre Grab . . . Er legt sich bäuchlings auf den Bretterboden, ganz flach, auch das Gesicht preßt er hin. Über der linken Braue spürt er kühl den Kopf eines Nagels. Es ist eine Wollust, den kühlen eisernen Nagel zu fühlen, es wäre angenehm, wenn sich der Nagel im Holz umdrehte und sich mit der Spitze in sein Gehirn bohrte.
Die Zeit, wohltätig verdeckend oder grausam entblößend, hat eine souveräne Manier, was dem menschlichen Auge als unlösliche Verstrickung und
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