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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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jetzt sein, der Junge? Es ist Nacht, die Bäume tropfen, die Gasse liegt da wie ein aufgeschnittener Schlauch, wo mag er in der gegenwärtigen Stunde sein?
    Den Beamten fiel am nächsten Tag die außerordentliche Wortkargheit ihres Chefs auf. Auch daß er bei Fragen, die sie an ihn zu richten hatten, nicht bei der Sache zu sein schien. Das letztere war ihnen besonders ungewohnt, manchmal warfen sie einander erstaunte Blicke zu. Etwas vor zwölf, ehe er sich zum Aufbruch anschickte, ließ er den Kanzleidirektor kommen. Als der Mann eintrat, war es (oder er stellte sich so), als ob er vergessen hätte, warum er ihn gerufen hatte. »Ja, richtig, lieber Haacke«, sagte er freundlich, »lassen Sie mir doch die Akten Maurizius aus den Jahren neunzehnhundertfünf und -sechs aus dem Landgericht holen und schicken Sie sie noch heute in meine Wohnung.«
    »Zu Befehl, Herr Baron.«
    Um drei Uhr lagen die nach Archivstaub riechenden Akten, über zweitausendsiebenhundert zum Teil schon vergilbte Seiten umfassend, zu Hause auf Herrn von Andergasts Arbeitstisch.
    8

    Am gleichen Abend begann er zu lesen. Da er sich nun einmal dazu entschlossen hatte, wollte er die Sache auch gewissenhaft durchführen. Entschlossen? Genau besehen war es etwas anderes gewesen als ein Entschluß, etwas, das mit seiner Freiwilligkeit wenig zu schaffen hatte. Ähnliches war ihm nie passiert, unwiderstehlicher Zwang, eben das; es gab das also, einen Zustand, an den er nie so recht geglaubt, den er im Grunde für eine Advokatenfinte gehalten hatte, ersonnen, um den Arm der Gerechtigkeit zu lähmen, und in das Gesetzbuch geschmuggelt, um bürgerlicher Halbwissenschaft zu schmeicheln. Angefangen hatte es mit dem Wort Maurizius, das plötzlich auf dem Blatt Papier stand, von ihm selbst geschrieben, er wußte nicht, wie. Als er dem Kanzleidirektor den Befehl erteilte, hatte er ihm kaum ins Gesicht zu blicken gewagt, er dachte, die Leute müßten es ihm ansehen, er litt, unter dem fortdauernden Zwang handelnd, wie im Gefühl einer unbekannten Krankheit des Nervensystems, und war beschämt wie vom Bewußtsein heimlicher Ausschweifung.
    Nicht weniger sonderbar erging es ihm dann während der Lektüre. Sein Gedächtnis hatte nur die rohe Struktur der Begebenheiten behalten und außerdem den Standpunkt, den er selbst einstmals dazu eingenommen. Alles einzelne war verwischt, das Gegeneinanderspiel der Schicksale erschien zuerst kaum verständlich, Entwicklung und Ausbruch der Leidenschaften sah sich an wie durch ein umgekehrtes Opernglas betrachtet, die Menschen glichen Kadavern, ihre Motive, ihre Taten, ihre Rechtfertigungen, Behauptungen, Beschuldigungen, Erklärungen, Ausreden, Wahrnehmungen hatten gleichfalls etwas Verwestes, ekel Abgestandenes, Formloses und Plattes. Ja, es war trostlos platt alles, Aussagen von Dienstboten, Laternenanzündern, Waffenlieferanten, Polizisten, Bahnschaffnern, Hotelportiers, Blumenhändlerinnen, Zimmervermieterinnen, Friseuren, Lohnkutschern und selbst die von Ärzten, Professoren, Professorenfrauen, Studenten, Kaufleuten, Industriellen, Baronen und Grafen, einer Armee von Zeugen, einem Schwall von Hörensagen, Gerüchten, Verhören, Gutachten, Plädoyers, Recherchen, Dokumenten und corpora delicti, Unsinn und Bemühung, menschlichem Leid und menschlicher Verworfenheit und Schwäche, aufbewahrt in diesem Berg von Papier, entblutet, entfärbt. Es zu prüfen war ein Geschäft, weit unergiebiger als das des Anatomen, der eine Sammlung von Spirituspräparaten registriert. Indes, Herr von Andergast hatte Erfahrung darin. Daß das Eindringen in die katakombische Welt kein vergnügliches Unternehmen abgeben und seine Geduld auf harte Probe stellen würde, wußte er im voraus. Aber Geduld zu üben war seine Bestimmung, und Vergnügen irgendwelcher Art zu genießen lag nicht in seiner Existenz. Er ging zunächst daran, das Wesentliche vom Überflüssigen zu scheiden, die Hauptcharaktere aus dem Wust herauszuschälen. Da war ja immer viel Murren gewesen über das Verdikt, das den Verbrecher getroffen hatte; nicht nur die gewohnheitsmäßigen Frondeure hatten Einspruch erhoben, nicht nur Wirrköpfe und Ordnungsfeinde hatten von einem Justizmord zu sprechen gewagt oder doch Zweifel an dem Verfahren und Zweifel an der Schuld geäußert, auch lautere Elemente hatten sich bedenklich gezeigt, und bis in die letzten Jahre waren die Stimmen nicht zum Schweigen gekommen, die eine Wiederaufnahme des Prozesses für erwünscht hielten. Dazu lag aber

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