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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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noch ganz gut, ein trockener Silbenstecher, Kleinstädter mit Seehundsschnauzbart und schwarzgerändertem, schiefsitzendem Zwicker auf der knochigen Nase. Er glaubte keineswegs an die Unschuld seines Klienten, er stürzte sich auf die psychiatrischen Sachverständigen, flüchtete in die formalen Einwände. Einen schwächlicheren Helfer hätte der Angeklagte nicht haben können. Maurizius kümmerte sich auch kaum um ihn, behandelte seine Zwischenreden und Fragen mit verächtlicher Ungeduld und gebot ihm sogar einmal in offener Verhandlung zu schweigen. Leichterdings hätte er einen besseren Advokaten haben können. Warum hatte er es unterlassen? Bei den Akten lag ein Brief des alten Maurizius an den Gerichtshof des Inhalts, Anna Jahn habe darauf gedrungen, daß Leonhart den Dr. Volland nehme, er sei der einzige Anwalt, dem sie vertraue, er habe schon ihrem Vater zufriedenstellend gedient, sei anständig und zuverlässig. Die Zuschrift war damals nicht beachtet worden; man hatte gar nicht nachgeforscht, schließlich war es nicht die Sache des Gerichts, sich um die Qualität des Verteidigers zu kümmern; heute, in der Einsamkeit des Arbeitszimmers, haftete an dem geringen Umstand eine gewisse Zweideutigkeit. Es war zunächst wie ein winziges Loch in einem ungeheuren Gefäß, durch das die wohl- und langverwahrte Flüssigkeit ausrinnt, ohne daß man freilich zu fürchten braucht, das Loch werde sich vergrößern; zunächst; alles schien nietfest. Weder Zweifel noch Unruhe regten sich in Herrn von Andergast. Er drehte die Schreibtischlampe ab und stand eine Weile im Finstern, unschlüssig, ob er in sein Schlafzimmer oder in Etzels Stube gehen sollte. Er wagte nicht, sich zu letzterem zu entschließen. Es war ihm zumut, als kehre er von dem Schauplatz des Prozesses auf einem schmalen, finstern Weg wieder in die Gegenwart zurück. Er mußte sich erst besinnen, wo er war. Jene Geschehnisse lagen immerhin achtzehn Jahre dahinten. Er richtete den Blick forschend auf die achtzehn Jahre. Sie umschlossen den inhaltsvollsten Teil seiner Existenz, eine unabsehbare Kette von Tagen. Gleichlauf, Gleichlauf. Achtzehn Jahre Mannesleben; grau geworden; nichts in der Hand. Das Äußere, ja: Amt, Karriere, Stellung; aber was hat man in der Hand? Genau genommen war es eine endlose Zeit. Es gibt eine Art von Langeweile, die sich durch das Leben alternder bürgerlicher Männer schleicht, die verheerend ist wie die gierige Tropenameise; der Gegenstand, den sie heimsucht, bleibt auf der Oberfläche völlig unversehrt, im Innern besteht er nur noch aus mehligem Moder. Ein Ruck, ein Stoß, und der Balken, ja das ganze Gebäude bricht in einen formlosen Haufen zusammen.
    Es ist aber etwas in der endlosen Zeit gewesen, das ihr die steppenartige Eintönigkeit hätte nehmen können, wenn er es beachtet hätte. Dieses Etwas ist verschwunden. Man hat es übersehen, und es ist fort. Während all der unzähligen Tage ist es neben einem aufgewachsen, und wenn man die Vergangenheit nach ihm absucht, weiß man nicht viel mehr von ihm, als was der Hausmeister, der Amtsdiener, der Postbote unter Umständen auch wüßte. Ist er das gewesen, der komische kleine Stöpsel, der (unermeßlich lang mag es her sein, damals war ja noch Sophia im Haus, die Gedanken meiden die Tatsache) mit sinnlosem Jauchzen in der Kinderstube hin und her rennt? Das Bild erhebt sich wie aus faulem Wasser, wobei sich irisierende Ringe bilden; welch ein wunderlicher Automatismus des Gehirns, warum produziert es gerade dieses Bild unter den Tausenden, die möglich wären? Der Bub ist nicht älter als drei Jahre. Er ist nackt, unmittelbar vor dem abendlichen Bad, und läuft jubelnd seinem blauen Gummiball nach. Wie rosig das Fleisch ist, wie tolpatschig die winzigen Füße auf den Boden stapfen, geradeaus gerichtet wie bei einem kleinen Bären, was für ein unfaßliches Funkeln in den Augen, als sei das kniehohe Menschlein betrunken von seinem Lebensentzücken: Spiel mit mir, Papa; ich such dich! Warum magst du nicht? Gehst du schon wieder fort? Bleib doch da, weißt du was? Du bist die große Eisenbahn, ich bin der Schaffner; sogleich pfeift und prustet er, schreit: einsteigen, verwandelt sich frenetisch und restlos in das, was er vorstellt: Lokomotive, Waggons, Reisende, alles in einem. Der Vater hat nur einen zerstreuten Blick auf die Miniaturzauberwelt und das strahlende Geschöpf zu seinen Füßen, er schließt die Tür hinter sich und begibt sich wieder in den Bereich der ernsthaften

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