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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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an, den Schrank zu durchsuchen, die offene Tür deckte ihn gegen die Stube hin, es dauerte nicht lange, und er fand, was er suchte, wieder bestätigte sich seine Vermutung, wieder triumphierte seine logische Überlegung, Fenchel hatte nur einen Teil der Bilder in Rosenaus Schrank praktiziert, die andern befanden sich in seinem eigenen Fach, unter Heften und Büchern. Etzel schloß den Schrank zu, schlüpfte ins Bett und schlief bis zum Morgen. Gleich nach dem Frühstück ging er zum Lehrer, teilte ihm den Sachverhalt mit und wie er dazu gekommen, ihn klarzustellen. Eine Viertelstunde darauf war Rosenau rehabilitiert. Fenchel, neben allem andern ein wütender Judenfresser, hatte die Gelegenheit benutzt, als nach dem Buch gefragt wurde und niemand auf ihn achtete, die Photographien in Rosenaus Lade zu schmuggeln. Er wurde mit Schimpf aus dem Heim gejagt. Rosenau hing von da ab mit geradezu närrischer Liebe an Etzel. Das Jahr darauf wurde er aber von seinen Eltern, die nichts mit ihm anzufangen wußten, nach Südamerika geschickt.
    Herr von Andergast schaute auf seine Hände herab. Es schien, als feßle ihn etwas am Nagel des einen Mittelfingers ganz ausnehmend, er hob die Hand bis ans Kinn und betrachtete den Nagel genau, während er wie absichtslos fragte: »Sie wußten selbstverständlich von dem Vorhaben meines Sohnes, sich zu entfernen?« Da er den Ausdruck unangenehmer Verwunderung auf dem Gesicht seines Gegenübers bemerkte, fügte er freundlich hinzu: »Ich würde es verstehen. Sie waren die Vertrauensperson. Sie genossen den Kredit. Ich hatte in solchem Grad den Vorzug nicht. Ohne mich beklagen zu wollen. Ich habe zum Beichtiger kein Talent. Offen gestanden auch geringe Lust. Ich schätze Herzensgeheimnisse nicht erheblich.«
    »Herzensgeheimnisse, das dürfte nicht das richtige Wort sein«, wagte Camill Raff einzuwenden. Die Unterhaltung geriet aus dem Erzählerischen ins Dramatische, er sah plötzlich die Schlinge, die ihm um den Hals geworfen werden sollte. »Das Verhältnis überschritt nie die Grenze, die ich selber zog«, sagte er still.
    »Sie haben die Frage nicht beantwortet«, versetzte Herr von Andergast sanft mit dem Augenaufschlag einer Frau, die sich über Vernachlässigung beschwert.
    »Er kam zu mir in einer inneren Not«, sagte Camill Raff. »Als älterer Freund mußte ich ihm zu helfen suchen. Er fragte: So und so steht es mit mir, was soll ich tun? Oder vielmehr: Kann ich anders handeln als so und so? Ich wußte nicht, was er im Sinn hatte. Ich konnte es aus seinen Andeutungen nicht entnehmen. In jedem andern Fall hätte ich die Achseln gezuckt, hätte vertröstet, wäre ausgewichen. Bei ihm war das nicht möglich. In diesem Moment nicht. Ihm gestand ich zu, in diesem Moment, was ich keinem andern zugestanden hätte, nämlich zu tun, was ihm der Geist eingab. Ich leugne nicht – ich spreche immer von dem einen Moment –, daß ich es unterlassen habe, ihn von dem Entschluß abzuhalten, mit dem er kämpfte. Ich bedaure es auch nicht. Daß es ein so weitgehender Entschluß war, davon hatte ich freilich keine Ahnung.«
    »Zweifellos hätten Sie dann doch Bedenken gehabt, ihn in solch einem höchst nebulosen Projekt zu bestärken?« erkundigte sich Herr von Andergast mit derselben sanften Stimme und einem kleinen, schlauen Lächeln.
    »Das . . . ich weiß nicht . . .«, erwiderte Raff stockend, »es war etwas an ihm . . . ich hätte mich geschämt, Wasser in diesen Wein zu schütten . . . es ist so selten . . . Sie hätten ihn nur sehen sollen, Herr Baron . . .«
    »Allerdings. Und ist Ihnen nicht bange geworden vor der Verantwortung?« fuhr die sanfte Stimme zu fragen fort.
    »Nein«, sagte Camill Raff. »Nicht einen Augenblick.«
    »Das erstaunt mich«, erwiderte Herr von Andergast und stand auf. »Nicht so sehr Ihre persönliche Haltung, die hat mich ja nicht zu kümmern, als vielmehr – wie soll ich mich ausdrücken? – die moralische Weitherzigkeit, die Sie als Erzieher bewiesen haben.« Camill Raff, der sich ebenfalls erhoben hatte, verfärbte sich leicht. »An Ihrer persönlichen Haltung habe ich bloß zu bemängeln, daß Sie mich zu warnen unterließen. Es wäre Ihre Pflicht gewesen . . .«
    »Ich durfte ihn nicht verraten.«
    »Einen Unmündigen? Kann man da von Verrat sprechen?«
    »Ich denke doch, Herr Baron. Hier, scheint mir, ist Unmündigkeit nur ein juristischer Begriff.«
    »Genügt der juristische Begriff nicht, wenn eine grobe Unzuträglichkeit zu verhüten ist? Gibt es

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