Der Fall Maurizius
nicht die geringste Veranlassung vor, weder sachliche noch formale; dem letzten dieser Gesuche hatte Herr von Andergast vor sechs Jahren die Befürwortung versagt, er erinnerte sich nun genau. Je mehr er sich in das Studium der Akten versenkte, je deutlicher erhob sich der Prozeß in der Erinnerung, als ob nicht bloß auf den schmutzigen Aktendeckeln, sondern auch in seinem Gehirn die Schicht von Moder, die sich darüber gelagert, weggefegt wäre. Doch geschah es nicht auf einmal, es ging allmählich vor sich. Eines späten Abends wurden ihm Gestalt und Gesicht des Leonhart Maurizius ganz unerwartet gegenwärtig.
Er hatte die Akten zugeklappt und wanderte, eine Zigarette rauchend, im Zimmer auf und ab. Er sah müde aus, um die Augenhöhlen waren bräunliche Schatten. Aber gerade der ermüdete Geist produziert oft, weil er dann seine Zwecke abgeschüttelt hat, ohne Anstrengung, was er zweckgefesselt niemals hergäbe. Plötzlich sah er den jungen Menschen vor sich, wie er vor achtzehn Jahren vor den Schranken gestanden. Ein hübscher Kerl, ohne Frage, gute Haltung, elegant; wenn er saß und die Beine übereinanderschlug, gewahrte man über den tadellosen Schuhen die grauen Seidenstrümpfe. Daß Herren Seidenstrümpfe trugen, kam damals erst in Mode. Das Haar, kastanienbraun, reich gewellt, war sorgfältig gescheitelt, die Gesichtszüge offen, weichlich, fast frauenhaft empfindsam, die Hände schmal, unangenehm klein, die ganze Erscheinung in der Mitte zwischen einem Weltmann mit künstlerischen Allüren und einem verwöhnten eigensinnigen, selbstsüchtigen homme à femmes. Nie wich ein stereotypes Lächeln von seinen wohlgeformten, sinnlichen Lippen (Herr von Andergast entsann sich, welchen Widerwillen ihm stets dieser lächelnde, sinnliche Mund eingeflößt. Warum? Hier traf Dunkles auf Dunkles, stieß Abgrund an Abgrund – vielleicht deswegen), im Gegensatz hierzu lag in den schönen braunen Augen, deren Ausdruck aber durch ein häufiges Zwinkern entstellt wurde, ein entschlossener Trotz und zugleich eine aus unzugänglichen Tiefen hauchende Traurigkeit. Da war er – noch vor fünf Minuten hätte Herr von Andergast nicht sagen können, wie er ausgesehen, sich getragen, sich gebärdet, jetzt war er bis in die Falte gezeichnet da, und die minuziöse Genauigkeit des Bildes erschreckte ihn fast. Er wünschte es abzutun, wie von einem unzüchtigen Anblick glitten seine Augen davon weg; doch es war hartnäckig, es schien, als könne der Wille allein es nicht bannen, als könne es nur von einem andern Bild von noch größerer Wahrheit verdrängt werden. Und dieses zweite Bild stellte sich ein. Etzels Bild.
In allen Phasen der Beschäftigung mit den Prozeßakten Maurizius war es das Bild Etzels, das sich in die trübe, verworrene, wie ein gefrorener Sumpf allmählich auftauende Materie mischte, zunehmendes Licht über sie verbreitete und den Geist unerbittlich zu ihr hinzwang. Wie das zustande kam, ist schwer zu erklären bei einem Mann, der nichts von einem Halluzinator an sich hatte, dessen Ahnungsvermögen gleich Null und bei dem so wenig metaphysische Anlage zu finden war wie etwa bei einer (im übrigen glänzend funktionierenden) Rotationspresse. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Grübeln über Etzels Flucht, über seine Abwesenheit und deren Motive seinen Einfluß geltend machte, als Herr von Andergast mit Unlust, ja mit dem Gefühl, seine Zeit zu verschwenden, die Akten Maurizius aus ihrer archivarischen Vergessenheit hervorholen ließ. Was ihm bis dahin vornehmlich zu schaffen gemacht hatte, war seine verletzte Eitelkeit, ob sie sich nun, in den höheren Regionen des Bewußtseins, Würde nannte, Autorität, väterliche Verantwortung, gesellschaftliche Stellung, öffentliches Ansehen oder, in den geheimen Falten der Seele, Gefühl der Zurücksetzung, gescheiterte Hoffnung, Versagen der eigenen Kraft war. Wenn er sich auch hütete, letzteren Empfindungen nachzugehen und sie seinem Stolz gegenüber rundweg leugnete, litt er doch darunter wie unter einer körperlichen Unpäßlichkeit, die man nicht zu kurieren wagt aus Furcht vor der Entdeckung tieferliegenden Übels. In dem Bemühen, seine Gedanken auf die äußeren Umstände abzulenken, wurden gerade die zur Plage. Ein Sechzehnjähriger, ausgeliefert einer Welt, die er nicht kannte! Wie sollte er sich schützen vor täglichen Fährnissen, vor roher Zumutung, vor dem Gebirge von Schmutz, vor Verbrechen, solchem, das an ihm verübt, und solchem, zu dem er
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