Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
Vom Netzwerk:
einen höheren? Ich bin für Belehrung empfänglich.«
    »Er genügt nicht, Herr Baron. Ja, es gibt einen höheren.«
    Das Dramatische hatte sich also bis zu stichomythischen Repliken gesteigert, doch weder mit Schärfe noch mit Stimmenaufwand; im Gegenteil, man war auf der einen Seite vollendet höflich, auf der andern bescheiden, aber fest. Zum Schluß, seinen Gast zur Tür begleitend, fragte Herr von Andergast wie nebenbei, ob Camill Raff wisse, wo sich Etzel befinde; Raff antwortete, die Flucht des Knaben hätte ihn aufs äußerste betroffen, sein Aufenthaltsort sei ihm natürlich unbekannt. Herr von Andergast nickte ernst, schüttelte ihm die Hand und versicherte ihm, wie anregend ihm sein Besuch gewesen sei. Aber als Raff die Tür geschlossen hatte, stand er lange Zeit mit eingezogener Unterlippe grübelnd da. Am andern Tag richtete er ein Schreiben an die Schulbehörde, in welchem er die schwere Verfehlung, die sich Dr. Camill Raff gegen den Schüler Etzel Andergast hatte zuschulden kommen lassen, zur Kenntnis brachte und eine Disziplinaruntersuchung forderte. Die Untersuchung, von so hoher Stelle kategorisch verlangt, fand unverzüglich statt; die Folge war, daß Camill Raff seines Lehramts für zwei Monate enthoben und dann an das Gymnasium eines hessischen Provinznestes versetzt wurde, für ihn, dem schon der bisherige Wirkungskreis zu eng gewesen, ein niederschmetternder Schlag, der geistig wie körperlich verhängnisvoll für ihn wurde.
    7

    Einige Tage nach Camill Raffs Besuch, von dem er den Eindruck, als wäre etwas Demütigendes damit verbunden gewesen, noch immer nicht losgeworden war, lud Herr von Andergast den Präsidenten Sydow zum Abendessen ein. Der Präsident hatte es ihm nahegelegt, seine Familie war in der Oper, er wollte Gesellschaft haben. Der Tisch war gut, das Gespräch schleppte sich leer hin. Der Präsident war ein gemütlicher Herr, der gern Anekdoten erzählte. Herr von Andergast hatte keine Vorliebe für Anekdoten; aber die Leute, die sich darauf versteifen, ihre Schwänke an den Mann zu bringen, fragen nicht danach, ob der andere Interesse zeigt oder nicht, sie besorgen sowohl die Produktion wie den Applaus, und so merkte der Präsident nicht einmal, wie zerstreut sein Gastgeber war. Herr von Sydow genoß den Ruf eines »guten Richters«; aber was ihm den Ruf verschafft hatte, war eher eine Mischung von epikureischer Trägheit und allgemeiner Menschenverachtung als edle Aufgabe. Er ging den Dingen nicht gern bis auf den Grund, noch unlieber verstieg er sich in die Höhe, nur in der Mitte war ihm wohl. In vielen Fällen beruhte seine »Güte« auf der derben Gemütlichkeit eines mäßigen Alkoholikers. Selber schwerfällig wie ein Faß, beseufzte er die Schwerfälligkeit des juristischen Apparats, hielt die Geschworenengerichte, ohne sich je dagegen aufzulehnen, für eine lächerliche Farce; und solange er noch Strafrichter gewesen, waren seine gewinnendsten Eigenschaften zutage getreten, wenn er einen geständigen Verbrecher vor sich hatte: dem hätte er am liebsten die Hand geschüttelt und ein Stipendium zugewendet. Mit so einem verliert man doch nicht seine Zeit, pflegte er zu sagen, als ob die Zeit eines Richters ausschließlich der träumerischen Versenkung in behaglichen Weinstuben gehöre. Amtlich war er mit Herrn von Andergast häufig hart aneinandergeraten, außeramtlich standen sie vortrefflich, es gab da gar keine Möglichkeit der Reibung, die Entfernung war zu groß.
    Er brach frühzeitig auf. Sie waren im Arbeitszimmer gesessen. Als Herr von Andergast allein war, öffnete er das Fenster, um den Zigarrenqualm hinausziehen zu lassen. Es war eine feuchtschwüle Aprilnacht. Die Bäume tropften, die dunkle Straße lag da wie ein aufgeschnittener Schlauch. Herr von Andergast bohrte den Blick in die Finsternis. Er hatte das Kinn auf die verflochtenen Hände gedrückt und stand unbeweglich wie ein Pfahl. Als er das Fenster geschlossen hatte, setzte er sich zum Schreibtisch, nahm einen Akt von dem bereitliegenden Stoß und schlug ihn auf. Doch seine Augen glitten interesselos über die Seiten. Er hielt einen Bleistift in der Hand und kritzelte zerstreut Zeichen und Worte auf ein leeres Blatt Papier. Auf einmal zuckte er zusammen. Da stand der Name Maurizius. Ohne es zu wissen und daran zu denken, hatte er ihn hingeschrieben. Er knüllte das Blatt zusammen, schleuderte es in den Papierkorb, warf den Bleistift auf den Tisch und erhob sich unwillig. Eine Weile schritt er auf und

Weitere Kostenlose Bücher