Der Fall Maurizius
ab, blieb stehen, schien über etwas nachzudenken, verließ das Zimmer, stand mit unschlüssigem Ausdruck im Korridor, am Rand des Lichtscheins, der aus dem Zimmer fiel, machte wieder ein paar Schritte, bis er an der Tür von Etzels Stube war, öffnete sie und ging hinein. Er drehte den elektrischen Schalter auf, schloß die Tür vorsichtig, sah sich mit zusammengezogenen Brauen um und setzte sich, aufatmend, an den Tisch. Es war das erste Mal nach der Flucht des Knaben, daß er hier hereinkam.
Mit dem Rücken gegen das Fenster lehnte er sich in gewohnter Weise im Stuhl zurück und kreuzte die Arme über der Brust. Es war etwas eigentümlich Lautloses um ihn. Sein Gesicht sah unfroh und einsam aus. Die Spannung, aus der er es niemals entließ, vielleicht auch im Schlaf nicht, verringerte sich. Es schien, als ob die Stäbe von dem Gegenwartskäfig, die es umgitterten, einer nach dem andern wegschmölzen. Die Augen nahmen alle Dinge in dem Raum auf, das Messingbett mit der verschossenen gelben Seidendecke, den alten gestickten Kanevas vor dem Ofen, die zwei Strohstühle an den Schmalseiten des Tisches, das Bücherregal mit den wie Zahnlücken wirkenden leeren Stellen in den Reihen. Die fehlenden Bücher hatte der Knabe mitgenommen. Eine unbeschreibliche Traurigkeit erfüllte den Raum; Herr von Andergast konnte nicht umhin, sie zu verspüren. Ein von seinem Bewohner verlassenes Zimmer hat etwas von einer Leiche. Die Tischplatte war mit quadratisch gemustertem Linoleum bezogen, das um das Tintenfaß herum von Tintenflecken starrte. An einer Stelle war mit dem Messer das Profil eines Kopfes in den Stoff geschnitten, ein unbeholfener Versuch. Er hat zum Zeichnen nie Talent gehabt, denkt Herr von Andergast. Die Lade des Tisches stand ein wenig offen, sie war anscheinend leer. Knaben sind immer schlampig, denkt Herr von Andergast und schiebt die Lade zu. Die Lade erinnert ihn an den Vorfall mit den Photographien in der Ferienkolonie. Er lächelt ein wenig. Scheues Lächeln, das er gleichsam gegen das von der Erzählung Camill Raffs her verbliebene Unbehagen durchsetzt. Wie kommt es, daß er von solchen Episoden nie erfahren hat? Wie kommt es überhaupt, daß so ein Kind immer nur im gegenwärtigen Tag vor einem steht, nie im vergangenen? Daß die Worte von gestern verhallen, die Gestalt vom vorigen Jahr vergeht? Ist der menschliche Sinn zu faul, die Reihe und Folge der Erscheinungen festzuhalten, wird er immer nur vom Augenblick genährt und daher betrogen? Denn der Augenblick ist ein Betrüger. Unmöglich, ein Bild zu gewinnen, wie der Junge mit zehn Jahren ausgesehen hat. Oder noch früher, mit acht, mit sechs. Photos hat Herr von Andergast nie von ihm herstellen lassen, er hielt das Photographieren von Kindern für eitles Unwesen. Es kommt auch darauf nicht an, es käme darauf an, daß das Bild in der Erinnerung vorhanden wäre. Etzel war ein schönes Kind, so viel glaubt Herr von Andergast noch zu wissen. Er entsinnt sich auch, daß er sich jedesmal geärgert hat, wenn die Leute sein hübsches Gesicht, sein adrettes Aussehen, sein artiges Benehmen lobten. Während er so dasitzt und einen Zugang zur Vergangenheit sucht wie ein Einbrecher, der sich nachts in ein Haus schleicht, muß er an die Blendlaterne denken, die der Vierzehnjährige in Amorbach zusammen mit den Nüssen gekauft hat. Ein Zug von erstaunlicher Kombinationsgabe, die er dem Burschen nicht zugetraut hätte. Da sieht er auf einmal den Fünfjährigen, wie aus staubgrauen Schleiern taucht der braune Lockenkopf hervor. »Vater, schau den großen Atlas mit mir an und erzähl mir vom Meer und von Asien.« Sehr hübsch, wie die kleinen, weißen Zähne durch den frischen Mund schimmern. Der klare, große Blick, die Gläubigkeit drin, wie wenn Asien und das Meer keine Geheimnisse für die Allmacht und Allwissenheit des Vaters hätten. Das war damals »Gegenwart« gewesen. Gegenwart heißt: keine Zeit haben. Nein, Lockenköpfchen, der Vater hat keine Zeit, er muß arbeiten. Der Lockenkopf wagt nicht zu widersprechen, zeigt nur betrübte Verwunderung: kann es etwas geben, das wichtiger ist in diesem sehnsüchtigen Augenblick als der Atlas und Asien und das Meer? Keine Zeit haben ist eine unbegreifliche Vokabel, da doch so unermeßliche Mengen von Zeit um einen herumliegen und man gar nicht weiß, wie man vom Aufwachen bis zum Einschlafen der Fülle Herr werden soll. Da ist alles Rätsel des Lebens drin enthalten, in dem »keine Zeit haben« . . .
Wo mag er wohl
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