Der Fall Maurizius
erwidert scheu: wegen des Kindes eben. Sie faßt es zuerst nicht, dann verfärbt sie sich und wird still. Sie ist eine kinderlose Frau, sie ist durch ihren Körper verurteilt, es zu sein. Es ist unabänderlich. In einem Nu überlegt sie die Gefahren der Situation. Ihre Lage als Weib und Gattin erfordert in jeder Sekunde ihres Lebens die schärfste Wachsamkeit, die hellste Geistesgegenwart. In der Ehe zwischen einem fünfundzwanzigjährigen Mann und einer vierzigjährigen Frau ruht nicht nur die Erfüllung geheimsten Anspruches auf den Schultern der Frau, sondern ihr obliegt auch die schwierigste Selbstverleugnung, die es gibt, als ob das ihrer Natur Widerstrebende das Angenehme und Wünschenswerte wäre. So faßt sie in jenem schlimmen Moment den Gedanken an Adoption des verwaisten Wesens und hätte ihn auch ausgesprochen, wenn Leonhart sie nicht durch ein verhängnisvolles Wort, das wahrscheinlich nur seiner Verlegenheit entspringt, stutzig gemacht hätte. (Sowohl im Verhörsprotokoll Nr. 14 der Voruntersuchung wie auch in einem bei den Akten liegenden Brief Ellis an ihre Freundin, Frau Professor von Geldern, war dieses Gespräch erwähnt, der Adoptionsplan allerdings nur in dem zweiten Dokument, wie sich denken läßt.) Er sagt nämlich: Anna weiß es, ich wußte mir keinen andern Rat, als sie ins Vertrauen zu ziehen. Elli schaut ihn groß an. Auf einmal ist in ihr keine andere Regung mehr als Abwehr und Feindseligkeit gegen das Kind. Sie erhebt sich schweigend und geht hinaus. Wie ist es zugegangen, daß Anna Mitwisserin wurde, bevor sie selbst es wurde? Was ist da geschehen? Was ist gesprochen worden? Sie muß es ergründen. Sie spürt, Leonhart empfindet eine Zärtlichkeit für das Kind, die er sich vielleicht noch nicht eingesteht, die ihr aber deshalb um so bedrohlicher dünkt. Weiß Anna das auch? Hat sie es gebilligt, hat sie ihn in dem Gefühl ermuntert? Hat sie den Schutzgeist gespielt? Ganz ohne Zweifel, die Bestätigung läßt nicht auf sich warten: Anna hat das Kind nach England gebracht, Anna hat die Fürsorge übernommen, Anna hat die Korrespondenz in Händen, Anna verwaltet dieses plötzlich aufgetauchte Seelengut. Wie kommt sie dazu? Gebetenermaßen? Als Nothelferin? Sie, Elli, war in dieser Not keine Zuflucht? Hat man ihren Einspruch gefürchtet oder nur vorgeschützt, sie zu schonen? Annas Gesicht nimmt andere Züge an in Ellis Augen. Sie hat die Schwester geliebt. Sie hat ihre Schönheit bewundert. Sie begreift, daß es schon Glück ist, sie anzusehen; Gott schafft nur in seltener Schöpferlaune so ein Wesen. Sie hält Anna für rein, für ein stolzes Mädchen, sie erwartet viel von ihren natürlichen Gaben, ihre Weltklugheit weiß sich in alle Verhältnisse zu schicken, ohne daß ihre Haltung als Dame Einbuße erleidet. Darum glaubt Elli nicht, daß sie sich etwas vergeben hat; in solcher Provinzstadt, wo alles, vom Gewürzkrämer bis zur Oberstengattin, Schlüssellochtratsch treibt, ist man schon kompromittiert, wenn man einem Mann öffentlich zulächelt, obwohl es kein Laster und keine Ehrlosigkeit gibt, die sich nicht hinter dem züchtig bemalten Vorhang austobt. Anna wird sich also in acht nehmen, auch wenn ihr der junge Schwager besser gefällt, als er ihr gefallen darf, denkt Elli; und daß er ihr gefällt, kann sie verstehen, er muß ihr gefallen, wo wäre die Frau, denkt sie, die ihm gegenüber kalt bliebe? Aber die Geschichte mit dem Kind Hildegard hat ein Band zwischen ihnen geknüpft, das fester ist, als gelegentliche Koketterie (obwohl Anna nichts weniger als kokett ist, aber jedes Weib hat seine Künste, und die Nichtkoketten sind im Ernstfall die gefährlicheren), gelegentliche Nähe bloß um sie schlingen könnte, unangreifbarer, da sie sich auf Menschenpflicht, auf Freundschaftsdienst dabei berufen dürfen; was immer unter der harmlosen Hülle sich abspielt, es schützt sie gegen Ellis Argwohn.
Aber Elli wagt gar nicht, zu argwöhnen. Sie wagt es vor sich selber nicht. So weit darf es überhaupt nicht kommen, daß sie die heiligste Versicherung, die er je gegeben, beim ersten besten Anlaß für brüchig, ja gebrochen hält. Es steht ja nun so mit ihr, daß sie liebt. Sie hat bis zu ihrem neununddreißigsten Jahr nicht erfahren, was Liebe ist. Das Glück der Ausschließlichkeit, das ihr das vorher freudlos zerlebte Leben zu einem täglich neuen Wunder macht, hat sie nicht gekannt. Muß sie nicht schon zittern vor dem, was ihre Augen noch gar nicht sehen, was sie nicht einmal als
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