Der Fall Maurizius
Angsttraum in ihre Sinne hineinläßt? Dennoch, die Angst ist ihre Lehrerin, und sie durchtränkt jede Tugend, die sie in ihrer Ehe zeigt. Es ist ja die Ehe mit einem Mann, der am Anfang steht wie sie am Ende; einem Schoßkind des Glücks, dem alles geschenkt worden ist, was andere sich erringen, erlisten müssen, der Wohlwollen, Nachsicht, Förderung fand, wo vor andern, vielleicht nicht minder Würdigen unter seinen Alters- und Berufsgenossen, sich schnöde die Türen schlössen, der nur zu nehmen brauchte, wo andere vergeblich bettelten, nur zu sprechen, um Zustimmung, nur zu arbeiten, um Anerkennung, nur zu locken, um Gefolgschaft zu finden. Da wird jede Stunde zur Erprobung, jedes Zusammensein hat seinen besonderen Anspruch. Er natürlich darf davon nichts ahnen, alles muß leicht aussehen, Ermüdung darf nicht von ihm bemerkt werden; hat sie Kopfschmerz, versagen die Nerven, so verbirgt sie es heroisch, sie hat ja Zeit, sich zu pflegen und auszuruhen, wenn er nicht da ist, in seiner Gesellschaft ist sie frisch, elastisch, gespannt, heiter, bespricht seine Pläne mit ihm, verscheucht seine Mißstimmungen. Er hat Anfälle von Verzagtheit; obwohl ihn das Schicksal bisher in jeder Weise begünstigt hat, glaubt er sich wie alle innerlich unsicheren Charaktere von der Welt nicht verstanden, da wendet sie die raffinierteste Überredung auf, eine erfinderische, geistige Zärtlichkeit, um ihn zu den Dingen und zu sich selbst wieder in ein beruhigtes Verhältnis zu setzen. Ihre Gespräche bei solchen Gelegenheiten dauern oft bis in die späte Nacht, und wenn es ihr endlich gelungen ist, ihn zum Lachen zu bringen, dann weiß sie, sie hat gesiegt. Alles ist ihr erlaubt, nur nicht langweilig zu sein; und wirklich unterhält sich Leonhart so ausgezeichnet mit ihr, daß er in den ersten achtzehn Monaten der Ehe Abend für Abend zu Hause ist, allein mit ihr. Zur Verwunderung seiner früheren Freunde zeigt er sich weder in der Kneipe noch bei sonstigen geselligen Zusammenkünften, auch Elli äußert nicht das geringste Verlangen, ins Theater oder zu Bekannten zu gehen, drei- viermal im Lauf des Winters sehen sie einige Leute bei sich, drei- viermal folgen sie den Gegeneinladungen, das ist alles. Es hat eine Zeitlang den Anschein, als ob das so ungewiß schimmernde Bild des »genialen« Maurizius, wie ihn seine Bewunderer, des »skrupellosen Romantikers«, wie ihn Zweifler und Spötter manchmal nennen, unter dem Einfluß Ellis sich zu reineren Umrissen formte.
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Die Akten geben hinlänglich genauen Aufschluß darüber, daß das Unheil bald nach der Auseinandersetzung wegen des Kindes Hildegard begonnen hat. Um diese Zeit kommt Anna Jahn schon beinahe täglich ins Haus der Schwester. Es ist ja ein behagliches Haus, geschmackvoll eingerichtet, gut geführt, hübsche Villa in der Gartenvorstadt, man fühlt sich wohl. Anna wohnt in einer dichtbesetzten Pension, sie beklagt sich über das schlechte Essen und die öde Gesellschaft. Tafelrunde von uninteressanten Studenten, ältlichen Fräuleins, die alle Familienverhältnisse der Stadt durchhecheln, vergreisten Junggesellen, die sie mit flauen Schmeicheleien bombardieren; es macht sie krank vor Nervosität. Zudem ist sie sich nicht schlüssig über die Wahl ihres zukünftigen Berufs, ihre Vermögensumstände sind desolat, in den letzten Monaten hat sie bereits von ihrem ererbten kleinen Kapital gelebt. Sie schwankt zwischen kunstgewerblicher Ausbildung und der Vorbereitung für das Examen in französischer und englischer Sprache. Sie sucht Rat bei Schwester und Schwager, beide bemühen sich, ihr zu helfen; doch kann sie sich nicht entscheiden, sie ist voll Unlust, sie spürt, daß sie sich für den Broterwerb nicht eignet, es fehlt ihr die Begabung, sie kann sich nicht unterordnen, sie kann nicht dienen, sie kann nicht verzichten auf das, was man damals »das Leben« nannte, wenn man um das Leben herumpromenierte. Leonhart, der sich zuerst ziemlich ablehnend verhalten hat, begreift ihr Zaudern und bestärkt sie darin. Er sieht in ihrer Verachtung des Erwerbs einen aristokratischen Zug, mit dem er auf alle Fälle sympathisiert. Elli hingegen warnt vor der Existenz eines Luxusgeschöpfes, die sich ohne Erniedrigung viel wesentlicherer Art als jene der arbeitenden Frau, nämlich Selbsterniedrigung, nur aufrechterhalten läßt, wenn man über die nötigen Mittel verfügt. Im übrigen wolle ja Anna nicht ins Kloster gehn, und es sei zu erwarten, daß sie bald genug einen Mann finde, der
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