Der Fall Struensee
über seine Stirn, er erbrach sich und stöhnte. Er verfluchte den schottischen Brandwein, den er am Abend zuvor in großen Mengen zu sich genommen hatte. Struensee trat an den Diwan, ein Lakai hielt Christian ein Becken vor den Mund. Struensee redete ihm gut zu wie einem Kind: „Es geht gleich vorbei”, rückte ihm die Kissen zurecht und hob den König in eine halbsitzende Lage. Christian sah seinen Arzt an. Ihre Augenpaare trafen sich, und plötzlich kam es Christian so vor, als ob eine Kraft, ermutigend und erwärmend, von den dunkelblauen Augen Struensees in ihn überging und sich in seinem Körper wohlig verbreitete.
Christian versuchte zu lächeln, aber die Augen fielen ihm zu, während er murmelte: „Sie müssen bei mir bleiben.” Struensee betrachtete Christian, der mit seinem weißen Knabengesicht halbsitzend vor ihm lag, wie ein aufgebahrter Toter. Seine Augenlider waren bläulich, die Wangen und Schläfen eingefallen. Die vogelartig vorstoßende Nase schien noch länger geworden, und der kleine Mund hatte etwas von einem verzogenen Kind. Struensee erforschte beinahe gierig dieses Gesicht. Er sah die müde Dekadenz eines alten Geschlechts, das sich in diesem Knaben erschöpft hatte. Er sah den Gegensatz von Schwäche und Zähigkeit, ein Leben wollen trotz der Unfähigkeit zum Leben. Und er spürte über allem einen hauchdünnen doch unzerreißbaren Schleier ausgebreitet, der diesen Menschen von allen anderen isolierte. Es war die Angst.
Struensee erhob sich und nickte dem Lakaien zu, der an der Wand stand. Er stieg die Treppe zum Deck empor. Draußen empfing ihn der Wind, in kurzen, kalten Stößen, sodass er nach seinem Hut griff, damit dieser nicht weggeweht würde. Leicht schwankend, unsicher seinen Gang den willkürlichen Bewegungen des Schiffes anpassend, die ihn bald vorwärts warfen, bald zurückdrängten, ging er über das Deck, vorbei an dem stöhnenden Holck, den ebenfalls die Übelkeit übermannt hatte.
Über ihm knallte der Wind in die Segel. Er stand am Bug des Schiffes, als in der Ferne blaugraue Hügel sichtbar wurden. Frankreich. Die Normandie.
Weiter ging die Fahrt durch kleine Städte mit engen schmutzigen Gassen, dazwischen Hecken, Felder, Bauernhäuser, gelegentlich ein kleines weißes Schloss. Von Frankreich hatte man Eleganz erwartet, sprühenden Witz, prächtige Häuser, bildschöne Frauen. Von alledem war nichts zu sehen. Was sie beobachteten, war das grauenhafte Elend der Landbevölkerung. Die Menschen waren zerlumpt und ungewaschen. Frauen streckten bittend magere Arme und schmutzige Hände aus, während sich die Kinder wie Hunde balgten oder sich auf der Erde wälzten, um ihre Flöhe loszuwerden. Die Männer standen finster im Hintergrund. Die Frauen rissen die dargebotenen Münzen mit einem Schrei an sich und umklammerten sie angstvoll. Mancherorts wurde das königliche Gefolge auch beschimpft und die Kutschen mit Erdklumpen und Steinen beworfen. Überall an den Landstraßen ragten Galgenbäume und Räder mit den Resten eines Hingerichteten gen Himmel. Scharen von Bettlern trieben sich umher, von denen sie sofort, wie von einem lästigen Krähenschwarm umringt waren, wenn sie anhielten, um die Pferde zu wechseln.
S o waren alle doppelt froh, endlich Paris zu erreichen. Wie schon in England jagte eine Vergnügung die andere: Maskenbälle, Theateraufführungen, üppige Dinner, Glücksspiele. Sie erhielten schließlich sogar eine Einladung zu einer Hinrichtung mit dem Hinweis, dass gute Fensterplätze reserviert seien. Öffentliche Exekutionen galten als beliebte Volksbelustigung, und um dem Pöbel auch etwas zu bieten, wurde durch bewusste Grausamkeit der Todeskampf in die Länge gezogen. Ein Teil des Gefolges nahm die Einladung an. Holck, der fürchtete, Christian könnte wieder Albträume bekommen, riet diesem ab, dem Schauspiel beizuwohnen.
Struensee hatte sich unterdessen darum bemüht, eine Einladung zu dem berühmten Salon der Madame Geoffrin zu erhalten. Hier trafen sich die Enzyklopädisten und andere große Denker des Jahrhunderts zu freiem Ideenaustausch. Christian hatte lebhaftes Interesse daran bekundet, Voltaire kennenzulernen, denn er hatte schon einige Male mit ihm korrespondiert. 1762 war der Hugenotte Jean Calas unschuldig hingerichtet worden und es gab immer wieder grausame Übergriffe auf die Hugenotten in Südfrankreich.
Voltaire hatte sich zum Anwalt der Verfolgten gemacht und in mehreren Rundschreiben auf die Opfer der religiösen Intoleranz
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