Der Fall Struensee
von Feuer, das vom Himmel fiel, von der Finsternis, in die man hinausgestoßen werden konnte und in der Heulen und Zähneknirschen waren. Seine Angst war zeitweise so lähmend und verdummend, dass er in seiner Verwirrung oft die einfachsten Dinge nicht begriff. Der fürchterliche Gott mischte sich in seine Spiele und hinderte ihn am Denken. Es gab nur einen Weg, dem göttlichen Zorn zu entrinnen und das war der Weg der Erleuchtung, der Weg der Gnade. Doch bei ihm stellte sich stattdessen der Zweifel ein.
Ihn beschäftigten Fragen, die ihm niemand beantwortete. Wie konnte Gott tatenlos zusehen, wie sein Sohn am Kreuz geopfert wurde? Die Hinschlachtung Christi kam ihm nicht gerecht, sondern grausam vor. Als unmenschlich empfand er auch die öffentliche Züchtigung von Soldaten, was häufig vorkam. Es hatte wenig genutzt, dass der preußische König die Folter abgeschafft hatte, Halle war der Garnisonssitz des alten Dessauer, der als Drillmeister der preußischen Armee ein eisernes Regiment führte. Trotz der unbarmherzig harten Strafen kam es immer wieder vor, dass ein Soldat versuchte zu desertieren, was das brutale Spießrutenlaufen zur Folge hatte.
Doch diese Folter kam auch bei wesentlich geringeren Vergehen zur Anwendung. Als Zehnjähriger sah er einmal, wie ein Soldat durch die Gasse musste. Zweihundert Mann schlugen auf ihn ein und beim achten Durchgang brach er bewusstlos zusammen, seine Hose war voller Blut und Hautfetzen hingen ihm den Rücken hinunter. Hatte sein Vater nicht immer behauptet, dass Gott gut war? Wie konnte er solche furchtbaren Dinge geschehen lassen? Kleine Kinder litten an furchtbaren Krankheiten. Viele Bauern in der Umgebung hungerten, ihre Kinder starben wie die Fliegen.
Die Antwort seines Vaters, die er von der Kanzel predigte, lautete, dass dies eine Folge der Erbsünde sei. Seine Mutter schüttelte bei diesen Dingen nur stumm den Kopf mit Tränen in den Augen. Er selbst kam zu der Auffassung, dass die Welt zwiespältig war. Es gab Gutes und Böses, Licht und Schatten. Vielleicht war Gott gar nicht allmächtig. Vielleicht gab es zwei Mächte, eine gute Macht und eine böse. Das wäre eine Lösung, die vieles erklären könnte. Er machte den Fehler, sich seinem Vater anzuvertrauen. Der Pastor erschrak. Wie kam das Kind zu solchen Überlegungen?
Eigentlich verbarg sich hinter diesen Fragen eine ungeheure Kühnheit des Geistes, doch der Vater konnte nur Vorwitz, ja Hochmut darin sehen. Er ermahnte den Sohn unter Tränen und forderte ihn auf, diesen Geist abzulegen und in Ergebenheit das zu glauben, was er ihn gelehrt hatte. Um seine Ermahnung zu unterstreichen, gab er seinem Sohn zwanzig Schläge mit einem Lederriemen.
Es herrschte in den pietistischen Familien, und nicht nur dort, die Auffassung, Kinder könnten nie genug Schläge bekommen. Denn in der Bibel stand: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.“ So war es üblich, Erziehung mit Züchtigung gleichzusetzen, wobei die Absicht deutlich wurde, jeden hervorstechenden Charakterzug wegzuprügeln. Die Strafe des Vaters hatte den Erfolg, dass Friedrich seinen Vater nicht mehr ins Vertrauen zog, jedenfalls nicht in Dingen, welche die menschliche Seele und ihre Erlösung betrafen. Er begann zu lesen, heimlich, Bücher, die verboten waren.
Und er beobachtete mit scharfem Blick die frommen Leute in seiner Umgebung. Vor dem Altar standen sie zwar mit niedergeschlagenen Augen und einfältigen Mienen, aber außerhalb der Kirche, fern von den Blicken der Geistlichen, benahmen sie sich von Grund aus anders. Sie betranken sich, würfelten, fluchten und betrogen einander. Sie zögerten auch nicht, den Landmädchen unter die Röcke zu greifen, sie in einen Busch zu ziehen und sich mit ihnen zu amüsieren. Nach und nach machte er es sich zum Grundsatz, einen Menschen nach dem zu beurteilen, was er tat und nicht nach dem, was er sagte.
Die pietistische Lehre erschien ihm freudlos; grundsätzlich war alles, was das Leben lebenswert machte, verboten. Und etwas, das Spaß machte, war automatisch Sünde. Tanz und Theater wurden verteufelt, ja es gab sogar Angriffe gegen die Musik von Johann Sebastian Bach. Dem Elfjährigen geriet Arnolds „Kirchen-und Ketzergeschichte“ in die Hände. Hier erschienen Ketzer, die bisher als gottlos hingestellt wurden, in einem ganz anderen Licht. So bekam er zum Beispiel von dem bisher verteufelten Spinoza einen sehr vorteilhaften Eindruck. Er las auch Schriften von Thomasius und Wolff. Während deren
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