Der Fall Struensee
aufklärerische Ideen um sich griffen, wetterte Vater Struensee mit dröhnender Stimme von der Kanzel: „Alles irdische Tun ist verwerflich, nur Gottes Gnade kann uns retten. Hütet euch vor der Eitelkeit. Seht nur, wie sich die armen Erdenwürmer in Samt und Seide hüllen und ihre Spitzenmanschetten affektiert hervorlugen lassen. Spüren sie denn nicht, wie sie des Teufels Kralle am Kragen packt? Und vor allem: Hütet euch vor dem aufgeklärten Gesindel und ihren anmaßenden Gedanken von der menschlichen Vernunft. Als ob die uns vor Gottes Strafgericht retten könnte!“
Jede freie Minute, in der er nicht las, verbrachte er mit seinem Freund David Panning. Ihm vertraute er an, was er da an verbotenem Gedankengut gelesen hatte. Es kam nicht oft vor, dass sie unbeaufsichtigt waren. Aber eines Nachmittags konnten sie sich fortstehlen und sie genossen die ungewohnte Freiheit. Sie liefen zur Saale hinunter, Friedrich kickte einen Stein über den Weg. „Wolff sagt, dass man den Mut zu eigenem Denken haben und nicht einfach glauben soll, was einem eingebläut wird.“ David nickte und flüsterte: „Genau. Eingebläut ist der richtige Ausdruck. Wenn wir einmal erwachsen sind, werden wir denken und schreiben, was wir wollen.“ „Und vor allem tun, was wir wollen. Ich möchte mal Arzt werden und den Kranken und Leidenden helfen.“
„Und ich werde eine Zeitung gründen und alle Ungerechtigkeiten darin anprangern. Zum Glück hat der preußische König die Zensur abgeschafft.“ So spannen sie ihre Lebensprojekte und Träume aus, während sie am Ufer des Flusses saßen und in die Wellen schauten.
Mit seinem Großvater, der seit einigen Jahren in seinem Elternhaus lebte, verstand er sich gut, mit ihm konnte er offen über seine Vorstellungen reden. Er bestärkte ihn auch in seinem Wunsch, Arzt zu werden. Das Großartigste war, er besaß ein Mikroskop! Und Friedrich durfte immer wieder hineinschauen und sah Dinge, die man mit bloßem Auge nicht erkennen konnte. Welche Wunder taten sich da auf! Es war ihm, als könne er in das Innerste der Natur blicken.
Der Großvater zitierte einen Ausspruch von Leibnitz, den er von seinem einstigen Professor Ernst Stahl häufig gehört hatte: „Ich ärgere mich über die menschliche Trägheit, welche die Augen nicht auftun noch die offenstehende Wissenschaft in Besitz nehmen mag. Wären wir klug, so würden wir uns dieses herrlichen Instrumentes zur Untersuchung der natürlichen Geheimnisse bedienen.“ Dr. Carl nahm mit einer Nadel einen Wassertropfen auf, tupfte ihn auf ein Glasplättchen und ließ Friedrich durch das Mikroskop schauen. „Großvater“, rief dieser, „in dem Wasser wimmelt es ja von Leben, als wäre dort eine eigene Welt verborgen. Oder ist es die göttliche Substanz, von der Spinoza spricht? Er sagt ja, Gott sei mit der Natur gleichzusetzen!“
„Lass das mal deinen Vater nicht hören“, mahnte der Großvater schmunzelnd. Friedrich hatte das Auge vom Okular genommen, lächelte vor sich hin und zitierte eine Gedichtzeile von Klopstock: „Der Tropfen am Eimer rann aus der Hand des Allmächtigen auch.“ Dr. Carl freute sich über seinen aufgeweckten Enkel und klopfte ihm wohlwollend auf den Rücken. Friedrich fuhr fort: „Nicht wahr, es ist, wie Spinoza schreibt: dass wir desto größere und vollkommenere Erkenntnis Gottes erlangen, je mehr wir die natürlichen Dinge erkennen.“
„Du wirst es darin sicher weit bringen.“
„Ich will wie du Arzt werden.“ Dr. Carl nickte. „Das ist ohne Zweifel eine gute Wahl. Da kannst du in Halle bleiben. Hier gibt es ganz gute Professoren. Ich selbst habe ja auch schon hier studiert.“
„Großvater, kann ich dich mal etwas fragen?“
„Nur zu.“
„Mutter hat es mir aber verboten.“ Dr. Carl seufzte, er ahnte, was dem Jungen auf der Seele lag. „Du willst wissen, warum ich beim dänischen König in Ungnade gefallen bin.“ Friedrich nickte. „Weißt du, es hatte nichts damit zu tun, dass ich kein guter Arzt wäre. Aber ich habe nicht nur die Adligen behandelt, sondern auch die Armen. Ich war mehrfach auf dem Land und habe gesehen, in welchem Elend die Bauern leben. Da habe ich meine Stimme erhoben und im Staatsrat ganz offen die harte Behandlung der Leibeigenen getadelt.
Daraufhin ließ mir Minister Bernstorff sagen, ich solle mich auf meinen ärztlichen Kompetenzbereich beschränken. Daraufhin antwortete ich, dass man Krankheiten nicht behandeln könne, wenn man die Ursachen nicht beseitige. Als ich mit
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