Der falsche Graf
Gemälde einheimischer Künstler vervollständigten die Einrichtung. Durch das bis zum Boden reichende Fenster konnte man auf den kleinen Balkon hinaustreten. Hier standen zierliche weiße Gartenmöbel. Über dem üppigen Blumenkissen am bauchigen Geländer schwirrten Bienen und Schmetterlinge.
Das Schönste war jedoch der Blick, den Conny von hier aus genießen durfte. Direkt vor ihr breitete sich eine sagenhaft grüne Rasenfläche aus, die sanft abfallend, bis zum See reichte. Dieser lockte mit unwahrscheinlich blauem Wasser. Bunte Segel schwebten darauf, ein Pärchen trieb gemächlich in einem Tretboot vorbei. Einige der Gäste hatten ihre Liegen direkt am Ufer aufgestellt und sonnten sich. Über allem lag eine Ruhe, die sich wie Balsam auf Connys durch die Großstadthektik gestressten Nerven legte. Jetzt zweifelte sie nicht mehr daran, das Richtige getan zu haben. Hierher zu reisen und sich zwei Wochen Auszeit zu gönnen war das Beste, was sie in ihrer Situation tun konnte. Es gab keinen Ort an dem sie sich mehr Erholung und letztlich auch Abstand von ihrem Kummer versprechen konnte als hier.
Das Telefon läutete. Mit einem Seufzer kehrte Conny in ihr Zimmer zurück und hob ab. Am anderen Ende meldete sich die freundliche Stimme der Empfangsdame, die sich erkundigen wollte, ob sich Conny schon für bestimmte Angebote aus dem Wellnessprogramm entschieden hatte. Als Conny verneinte, schlug ihr Sonja Tewes vor, für sie einen Untersuchungstermin bei Dr. Siegfried Lauterbach, dem Hotelarzt, zu vereinbaren, damit dieser ein Programm für Conny zusammenstellte.
"Dr. Lauterbach ist auf Naturheilverfahren und Homöopathie spezialisiert und wird Sie gewiss bestens beraten."
Conny nahm das Angebot dankend an. Es war mindestens drei Jahre her, seit sie das letzte Mal beim Arzt gewesen war. So ein rundum Gesundheits-Check würde ihr bestimmt nicht schaden.
Ein Hausdiener hatte inzwischen das Gepäck gebracht. Aber Conny hatte keine Lust zum Auspacken. Sie wollte raus, das Gelände erkunden und den herrlichen Sonnenschein genießen. Also hüpfte sie schnellstens unter die Dusche, das Bad war ebenfalls in Blau gehalten und mindestens so luxuriös wie der Rest der Einrichtung ausgestattet, kramte anschließend ein leichtes Sommerkleid aus dem Koffer und band sich das Haar mit einem bunten Tuch aus dem Nacken. Noch rasch in die witzigen Flip-Flops mit den Colaflaschen geschlüpft, schon war sie fertig.
Der Lift brachte sie ins Erdgeschoss. Unternehmungsdurstig wollte sie aus der Kabine stürmen, aber ihr Lauf wurde von der hoch aufragenden Gestalt eines Herrn gestoppt, der, eine aufgeschlagene Zeitung vor der Nase, gerade die verspiegelte Fahrstuhlkabine betreten wollte. Wieder war es nur Connys Geistesgegenwart und körperlicher Wendigkeit zu verdanken, dass es nicht zu einem Zusammenstoß kam. Aber der Herr schaffte es, ihr noch rasch auf den Fuß zu treten, bevor sie ausweichen konnte. Erschrocken ließ er die Zeitung sinken.
"Sie schon wieder!", entfuhr es Conny als sie den Unglücksraben erkannte. "Meine Güte, Sie sollten wirklich eine Warnlampe auf dem Kopf tragen. Ist das ein Hobby von Ihnen?"
"Was?", fragte Simon irritiert. Dieser neuerliche Fastzusammenstoß war ihm wirklich überaus peinlich.
"Das Leute-Umrennen." Conny zwängte sich an ihm vorbei ins Foyer. "Beim dritten Mal sind Sie mir einen Drink schuldig."
Sie ging weiter, kam aber nicht weit, denn Simon hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und war ihr gefolgt.
"Moment, bitte." Er verstellte ihr den Weg. "Das ist mir jetzt aber wirklich peinlich", sprudelte er los. "Normalerweise bin ich nicht so schusselig. Das muss am Fön liegen."
"Oh, wir haben Fön?" Conny hob die Brauen.
Auf Simons Gesicht erschien ein verschmitztes Lächeln. "Vielleicht." Er hob die Schultern. "Es ist jedenfalls eine tolle Ausrede."
Conny betrachtete ihn ungeniert, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ein wirklich gut aussehender Mann, ging es ihr durch den Sinn. Genau dein Typ: groß, schlank, dunkle Haare, blaue Augen – ach, vergiss es, bot sie sich sofort Einhalt, er sieht viel zu gut aus. Den spannt dir Jenny sofort aus, wenn sie ihn sieht.
"Die Idee mit dem Drink würde ich gerne sofort in die Tat umsetzen", sagte Simon in ihre Grübeleien hinein und holte Conny damit in die Realität zurück. "Wir könnten uns auf die Terrasse setzen. Hätten Sie Lust?"
Sag nein, riet ihr Verstand. Du bist hier um dich zu erholen, nicht, um dir neue Probleme aufzuhalsen. "Ja, gerne",
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