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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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eigenständige Persönlichkeit.«
    Ich sehe dem Dark Diver ins Gesicht – in mein Gesicht – und lächle.
    »Das Problem liegt einfach darin, dass wir die Welt mit jeweils anderen Augen sehen«, fährt der Dark Diver fort. »Ich betrachte
sie aus der Tiefe heraus. Du von draußen. Denn für dich existiert noch eine reale Welt. Mit einer Sonne, einem Himmel und Menschen. Ich habe das zwar alles auch, aber eben hier, in der Tiefe . In Deeptown.«
    »Wie konnte das geschehen?«, will ich wissen.
    »Hast du das vergessen?«
    »Ja.«
    »Der Loser hat dir einen Teil seiner Kraft gegeben, Leonid. Erinnerst du dich noch, wie du fast untergegangen wärst, als Dibenko versucht hat, dich mit dem zyklischen Deep-Programm auszuschalten? Dieser Falle für Diver.«
    »Ja.«
    »Da hat dir der Loser einen Teil seiner Kraft gegeben, Ljonka. Eine Schale. Oder einen Panzer. Eben mich. Auf diese Weise konntest du dem endlosen Eintauchen entkommen. Du konntest das Netz lenken. Natürlich nicht direkt … sondern durch mich. Als das für dich nicht mehr von Bedeutung war, bin ich zu einem Niemand geworden. Ein hirnloser Appendix, der nur deine Befehle auszuführen hat. Ein Programm, das sich im Netz verlor und auf dein Erscheinen warten musste. Ich musste lernen, deine Wünsche zu erahnen, und stets den besten Weg wählen.«
    »Du bist zu einer Figur geworden, wie sie Dibenko jetzt mit Artificial nature geschaffen hat.«
    »Richtig.«
    Ich stürze den Kognak hinunter und sehe den Dark Diver an. Der breitet irgendwie schuldbewusst und demütig die Arme aus.
    »Du hast freiwillig auf diese Gabe verzichtet, Leonid, vergiss das nicht. Du hast dich für die reale Welt entschieden … wobei du den Eindruck hattest, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Deshalb hast du alle Brücken hinter dir abgebrannt. Du hast auf deine Fähigkeiten als Diver verzichtet. Aber am Ende konntest du dich eben doch nicht ändern, deinen Körper, dein Hirn. Darum
hast du das Divertum als Erscheinung ausgelöscht. Du hast das Netz und das Deep-Programm verändert. Danach konnten die Menschen nicht mehr in der Tiefe ertrinken, denn der Timer ist jetzt im Deep-Programm selbst eingebaut. Die Diver haben die Löcher in den Codes nicht mehr gesehen – weil du es so wolltest!«
    »Das wollte ich ganz bestimmt nicht!«
    »Doch. Wenn auch unbewusst natürlich. Aber du hast das Streichholz angestrichen – und ich habe die Brücken verbrannt. Wie du es mir befohlen hast. Doch sobald die elektronische Asche niedergegangen, sobald der Befehl erfüllt war, da habe ich mich im Netz aufgelöst. Und bin eingeschlafen. Ich wäre sogar … fast gestorben. Aber dann bist du zurückgekehrt.«
    Stimmt, ich war zurückgekehrt.
    Was hätte ich denn sonst tun sollen? In der realen Welt war ich ein Niemand, ohne Arbeit, ohne Freunde, ohne Interessen. Da hatte ich nichts und niemanden. Außer Vika.
    Aber selbst das, so schien es, hatte mir nicht gereicht.
    Die Liebe ist ein Feuer. Wenn man sich ganz von der Welt abschottet, allein für sich bleibt, dann merkst du nicht einmal, wie die Flamme den Sauerstoff verbraucht und schließlich erstickt.
    »Ja, ich bin zurückgekehrt«, sage ich.
    »Und genau da bin ich wieder zum Leben erwacht. Ich bin dir gefolgt. Ich habe deine Worte gehört. Ich habe deine Gesten imitiert. Ich habe gelernt, dein Verhalten zu prognostizieren. Und ich habe mich von deinen Gefühlen ernährt, habe sie aufgegessen. Ich habe mir deinen Zorn einverleibt, deine Tränen geweint und deine Wut ausgelebt.«
    »Und was ist mit dem Rest? Mit Liebe, Freude und Güte?«
    Der Dark Diver lächelt bitter.
    »Davon hast du mir nichts übrig gelassen, Leonid. Das hast du alles für dich selbst beansprucht. Ich mache dir deswegen keinen Vorwurf … Es wäre absurd, etwas anderes zu erwarten.«
    Für Dritte wirken wir vermutlich wie zwei alte Freunde, die sich nach langer Zeit wieder getroffen haben.
    Und das Schreckliche daran ist, dass es stimmt.
    »Und deshalb bist du … so geworden?«, frage ich.
    »Wahrscheinlich. Aber auch darüber beklage ich mich nicht. Schließlich bin ich weder ein böses Genie noch ein irrer Killer. Ich bin nur härter und ernster als du. Aber ich lebe … ich bin echt, wenn auch nur hier in Deeptown!«
    »Warum hasst du Dibenko so?«
    »Ist das wirklich so wichtig? Einigen wir uns doch einfach darauf, dass ich seine neuen Programme brauche. Um Geschwister zu kriegen. Wesen wie mich. Denn wir sind die rechtmäßigen Bewohner der virtuellen Welt.

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