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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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Gesicht.
    »Schnapp!«, sage ich und klappere mit den Zähnen.
    Die Frauen kreischen amüsiert auf.
    »Du hast verloren!«, ruft die erste. »Du hast verloren!«
    »Wer wagt es, meine Ruhe zu stören?«, frage ich mit Grabesstimme. Die beiden Frauen interessieren sich jedoch nicht für den Revolvermann als solchen, sondern debattieren eifrig über ihre Wette.
    »Tschüs!«, bringen sie wie aus einem Munde heraus, ehe sie kichernd die Straße hinunterlaufen.
    Wie einfach für sie alles ist! Und genau so muss man in der Tiefe leben.
    Ich trete an eine Hauswand und lehne mich gegen sie. Ich würde jetzt gern eine rauchen. Schade, dass der Revolvermann Nichtraucher ist.
    »Hast du eine Zigarette für mich?«, haue ich einen Mann an, der an mir vorbeigeht. Der nickt und hält mir ohne zu zögern ein Päckchen und ein Feuerzeug hin. Ich zünde mir eine an.
    »Warum flattern dir die Hände so?«, fragt er mich. »Hast du dir einen angetrunken?«
    »Nein. Ich habe ein Gespenst gesehen.«
    »So was kommt öfter vor«, erwidert der Mann. »Du musst ihm das Kreuzzeichen machen und es mit Weihwasser besprengen.«
    »Ich werd’s mir merken«, verspreche ich.
    Mir ist wirklich nicht gut. Ich sehe mich nach allen Seiten um. In Deeptown gibt es an jeder Ecke Kneipen und Lokale.
    Tatsächlich entdecke ich erst eine Pizzeria, dann ein Restaurant, das Traktir .
    Frönen wir dem Patriotismus!
    Ich betrete das Traktir und sehe mich um. Die Einrichtung ist ganz okay.
    Ich setze mich an einen freien Tisch. Eine Holzbank steht an der Wand, davor ein derart abgeschabter Holztisch, dass er weiß wirkt. Ein brennender Holzplan spendet Licht. Auf einem Karren voller Heu finden sich Kübel und Eimer mit Salat. Alles im Stil à la russe . Es soll den Ausländern ja gefallen.
    Ein Kellner in einem knallroten – wie sollte es anders sein? – Hemd kommt herbeigeeilt.
    »Ein Glas Kognak«, bestelle ich.
    »Wir haben hervorragenden Wodka«, informiert mich der Kellner. »Echt russischen.«
    »Hör mal, Freundchen, ich bin Russe. Und ich habe einen verdammt schweren Tag hinter mir. Trotzdem will ich jetzt keinen Wodka trinken. Hast du das verstanden?«
    Obwohl er nickt, stelle ich noch mal klar: »Du bringst mir also ein Glas Kognak aus dieser schönen Flasche mit der Aufschrift Kutusow. Und ein Kaviarschnittchen. Das ist alles.«
    »Kommt sofort.«
    Als er meine Bestellung bringt, zahle ich gleich und trinke in einem Zug das halbe Glas.
    Ein wunderbarer Kognak.
    In der realen Welt habe ich ihn erst einmal getrunken. Und auch das nur, um mich später an den Geschmack zu erinnern.
    Gut.
    Die Anspannung weicht allmählich von mir. Ganz langsam. Doch ich spüre genau, wie der heutige Abend, mein Körper, der zu Holz geworden ist, die weit aufgerissenen Augen Pats und Dschingis, der die Hürde zwischen Tiefe und realer Welt überwunden hat, in den Hintergrund treten.
    Sie verschwinden nicht auf Nimmerwiedersehen, natürlich nicht, aber doch vorübergehend.
    Damit ich all das überstehen kann.
    Am Nachbartisch sitzt eine fröhliche Gesellschaft.
    »Komm schon, Rain, trag uns ein Gedicht vor«, bittet jemand eine attraktive junge Frau.
    Und die hat nicht die Absicht, sich lange zu zieren. Sie legt stolz den Kopf in den Nacken und lächelt, als wolle sie die Albernheit dieser Pose noch unterstreichen.
    Trotzdem verstummen alle.
    Mit silbriger Hand übers Glas gestrichen,
Und die Scheibe ist dem Spiegel gewichen.
Die Kunst ihn dir vor die Nase hält.
Damit in ihm dein Blick auf dich selber fällt.
    Sie trägt das Gedicht sehr unprätentiös vor. Irgendwie albern, etwas unbeholfen und als nehme sie die Situation nicht ganz ernst.
    Wir alle halten nur zu gern den Spiegel hoch …
Illusion verbirgt des Bösen Schatten noch.
Der Doppelgänger sich mit einem Lächeln empfiehlt,
Der Spiegel uns allen die Seelen stiehlt.
     
    Wie leicht du dich an seinem Rand doch schneidest,
Wie stark auch der Schmerz, an dem du leidest –
»Zerbrich mich nicht!«, der Spiegel fleht,
Und all die Liebe wird von Kälte verweht.
     
    Eine grausame Welt, in Spiegeln gefangen,
Die erpicht darauf, die Freiheit zu erlangen.
Doch was, sollte je ihr das glücken?
Doch was, sollten die Spiegel uns unterdrücken?
     
    Und wenn uns eines Tages werden beschert
Zahllose Seelen, von Spiegeln verzerrt?
Wenn ein gläsernes Klirren die Welt erschüttert –
Und unklar, für wen das Orchester schmettert.
    Die Frau verstummt. Sie lächelt schüchtern, bricht dann jedoch in schallendes Gelächter

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