Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
denn es ist kein natürliches Verhalten, jemanden zu berühren, während man vorgibt, seine Gedanken zu lesen, woran die meisten Leute sowieso nicht glauben. Doch nehmen wir an, ich behaupte, ich wolle Ihnen ein Wort zuflüstern.« Sie beugte sich dichter an Sachs heran und schirmte dabei mit der rechten Hand ihren Mund ab. »Sehen Sie, das ist eine ganz natürliche Geste.«
»Doch den anderen Ring haben Sie nicht bekommen«, sagte Sachs lachend und ließ die Hand wieder sinken, die sie schützend ans Ohr gehoben hatte.
»Dafür aber Ihre Halskette. Sie ist weg.«
Sogar Rhyme war unwillkürlich beeindruckt und amüsiert, während er verfolgte, wie Sachs sich an Hals und Brust griff und dabei zwar lächelte, aber eindeutig beunruhigt darüber war, dass sie immer mehr Gegenstände verlor. Sellitto lachte wie ein kleines Kind, und Mel Cooper ließ die Arbeit ruhen und genoss die Show. Amelia hielt nach dem Schmuckstück Ausschau und sah Kara an, die ihr die leere rechte Hand entgegenstreckte. »Weg«, wiederholte sie.
»Aber
mir
fällt auf, dass Sie Ihre linke Faust hinter dem Rücken halten«, warf Rhyme argwöhnisch ein. »Wobei es sich, nebenbei bemerkt, um eine eher
unnatürliche
Geste handelt. Daher gehe ich davon aus, dass dort die Kette ist.«
»Ah, Sie sind gut«, sagte Kara – und lachte. »Aber nicht auf diesem Gebiet, fürchte ich.« Sie öffnete die linke Hand. Es war nichts darin.
Rhymes Miene verfinsterte sich.
»Die linke Hand zur Faust ballen und außer Sicht halten? Tja, das war die wichtigste Täuschung von allen. Ich habe das gemacht, weil ich wusste, dass es Ihnen auffallen und Ihre ganze Aufmerksamkeit auf meine linke Hand lenken würde. Wir nennen das ›Nötigung‹. Ich habe Sie
genötigt
zu glauben, Sie hätten meine Methode durchschaut. Und sobald Sie davon überzeugt waren, schaltete Ihr Verstand auf stur und zog keine andere Erklärung mehr in Betracht. Während Sie – und alle anderen – auf meine linke Hand gestarrt haben, hatte ich Gelegenheit, die Kette in Amelias Tasche gleiten zu lassen.«
Sachs griff hinein und zog das Schmuckstück heraus.
Cooper klatschte Beifall. Rhyme gab ein mürrisches, aber anerkennendes Grunzen von sich.
Kara nickte in Richtung der Tafel. »Darauf müssen Sie sich bei diesem Killer einstellen. Auf Täuschungen. Sie werden glauben, Sie hätten seine Absicht durchschaut, aber das ist Teil seines Plans. So wie ich wird er Ihr eigenes Misstrauen – und Ihre Intelligenz – gegen Sie einsetzen. Genau genommen ist er sogar auf Ihr Misstrauen und Ihre Intelligenz
angewiesen
, sonst funktionieren seine Tricks nicht. Mr. Balzac sagt, die besten Illusionisten beherrschen ihre Nummern dermaßen gut, dass sie direkt auf ihre Methode verweisen, direkt auf das, was sie tatsächlich tun werden. Doch der Zuschauer glaubt ihnen nicht und schaut in die andere Richtung. Wenn das geschieht, ist nichts mehr zu retten. Der Zuschauer hat verloren, und der Illusionist ist Sieger.« Der Gedanke an ihren Mentor schien sie zu beunruhigen. Sie sah auf die Uhr und verzog das Gesicht. »Ich muss jetzt wirklich gehen. Ich bin schon viel zu lange weg.«
Sachs bedankte sich bei ihr.
»Ich lasse einen Wagen kommen, der Sie beim Laden absetzt«, sagte Sellitto.
»
In der Nähe
des Ladens, bitte. Ich möchte nicht, dass er erfährt, wo ich gewesen bin… Ach ja, eines noch. Es ist ein Zirkus in der Stadt, der Cirque Fantastique. Die haben einen hervorragenden Verwandlungskünstler. Vielleicht sollten Sie sich die Nummer mal ansehen.«
Sachs nickte. »Das Zelt steht direkt gegenüber im Central Park.«
Im Frühling und Sommer diente der Park häufig als Schauplatz groß angelegter Freiluftkonzerte und anderer Veranstaltungen. Bei einer früheren Gelegenheit hatten Rhyme und Sachs hier im Haus vor den offenen Schlafzimmerfenstern gesessen und einem Konzert von Paul Simon gelauscht.
Rhyme schnaubte verächtlich. »Ach,
die
haben gestern also den ganzen Abend lang diese schaurige Musik geprobt.«
»Magst du den Zirkus etwa nicht?«, fragte Sellitto.
»Natürlich mag ich den Zirkus nicht«, herrschte Rhyme ihn an. »Wie sollte ich auch? Schlechtes Essen, Clowns, Akrobaten, die sich vor deinen Kindern fast zu Tode stürzen… Aber«, wandte er sich an Kara, »es ist eine gute Idee. Danke… Darauf hätten wir eigentlich von
selbst
kommen müssen«, sagte er sarkastisch und ließ den Blick über die Teammitglieder schweifen.
Dann verfolgte er, wie Kara eine scheußliche gestreifte
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