Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Atemzug, den du auf der Bühne tust, gilt deinem
Publikum
. Ein Illusionszauber kann nicht bloß mittelprächtig sein. Du darfst nicht einfach nur genügen – du musst elektrisieren. Falls auch nur einer der Zuschauer dir auf die Schliche kommt, hast du versagt. Falls du einen Augenblick zu lange zögerst und dadurch den Effekt abschwächst, hast du versagt. Falls jemand gähnt oder auf die Uhr schaut, hast du versagt.«
»Man kann doch nicht immer hundertprozentig funktionieren«, wandte Sachs ein.
»Aber das muss man«, sagte Kara kurzerhand und klang überrascht, dass jemand anderer Ansicht war.
Sie erreichten den Cirque Fantastique, wo zur Stunde für die abendliche Premierenvorstellung geprobt wurde. Dutzende von Künstlern liefen umher, einige kostümiert, andere in T-Shirts und Shorts oder Jeans.
»O Mann…«, flüsterte jemand atemlos. Es war Kara. Ihre Augen funkelten wie die eines kleinen Mädchens und musterten das blendend weiße geschwungene Zelt.
Sachs zuckte zusammen, als über ihr ein lauter Knall ertönte. Sie hob den Kopf und sah zwei riesige Banner, die in zwölf oder dreizehn Metern Höhe im Wind flatterten und in der Sonne glänzten. Auf einem stand in gemalten Lettern der Name Cirque Fantastique.
Auf dem anderen sah man die Abbildung eines schmalen Mannes in einem schwarz-weiß karierten Kostüm. Er hielt die Arme ausgestreckt, und seine Handflächen wiesen nach oben, als bitte er das Publikum hinein. Die obere Hälfte seines Gesichts lag unter einer schwarzen stupsnasigen Maske mit grotesken Zügen verborgen. Es war ein beunruhigendes Bild. Sachs musste sofort an den Hexer denken, der sich durch vielerlei Masken tarnte.
Und ebenso seine Motive und Pläne.
Kara folgte Amelias Blick. »Das ist Arlecchino, der Harlekin«, sagte sie. »Kennen Sie die Commedia dell’Arte?«
»Nein.«
»Eine italienische Theaterform. Es gab sie von der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts bis, ich weiß auch nicht, so ungefähr zweihundert Jahre später. Der Cirque Fantastique hat sie sich zum Thema genommen.« Sie deutete auf kleinere Banner zu beiden Seiten des Zeltes, auf denen andere Masken abgebildet waren. Mit ihren Hakennasen oder Schnäbeln, den vorspringenden Stirnen und sich aufwölbenden Wangenknochen wirkten sie wie aus einer anderen Welt und irgendwie gespenstisch.
»In den Stücken der Commedia dell’Arte gab es etwa ein Dutzend fester Charaktere«, fuhr Kara fort. »Die Schauspieler trugen die typischen Masken, um kenntlich zu machen, wen sie verkörperten.«
»Und das waren Komödien?«, fragte Sachs mit Blick auf eine besonders dämonische Maske und zog eine Augenbraue hoch.
»Ich schätze, heutzutage würden wir sie als schwarze Komödien bezeichnen. Der Harlekin war keine sehr heroische Figur, handelte völlig ohne Moral und interessierte sich nur für zwei Dinge: Essen und Frauen. Er tauchte kurz auf und verschwand gleich wieder, ein eher heimtückischer Kerl. Eine andere Gestalt, Pulcinella, war ziemlich sadistisch veranlagt. Er hat den Leuten und sogar seinen Geliebten üble Streiche gespielt. Dann gab es da einen Arzt, der regelmäßig Menschen vergiftete. Die einzige Stimme der Vernunft war diese weibliche Figur, Kolumbine, und eines der Dinge, die ich an der Commedia dell’Arte mag, ist die Tatsache, dass Kolumbines Rolle tatsächlich von einer Frau gespielt wurde. Nicht so wie in England, wo Frauen nicht öffentlich auftreten durften.«
Das Banner knallte abermals im Wind. Harlekins Augen schienen einen Punkt dicht hinter Amelia zu fixieren, als würde der Hexer sich von dort anschleichen – ein Nachklang der Suche in der Musikschule.
Nein, wir haben keinerlei Anhaltspunkte für seine Identität oder seinen Aufenthaltsort…
Amelia sah einen Wachmann näher kommen, der anscheinend ihre Uniform entdeckt hatte. »Kann ich Ihnen helfen, Officer?«
Sachs erkundigte sich nach dem Direktor. Der sei leider gerade nicht da, erklärte der Mann und fragte, ob sie stattdessen mit einer der Assistentinnen sprechen wollte.
Sachs war einverstanden, und wenig später tauchte eine kleine, zierliche, gestresst wirkende Frau vor ihnen auf. Sie hatte einen dunklen Teint und sah ein wenig wie eine Zigeunerin aus.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit unbestimmbarem Akzent.
Sachs stellte sich und Kara vor. »Wir untersuchen eine Reihe von Straftaten und würden gern wissen, ob in Ihrer Show Illusionisten oder Verwandlungskünstler auftreten.«
Die Frau war beunruhigt. »Ja,
Weitere Kostenlose Bücher