Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
erschrecken. Es lag auf den Pflastersteinen und miaute leise.
Konnte er es einfach so aufheben? Würde es ihn kratzen? Er erinnerte sich an eine Gesundheitssendung, in der vor entsprechenden Infektionen gewarnt worden war. Aber das Tier schien zu schwach, um ihn zu verletzen.
»He, was ist denn los mit dir, Kleines?«, fragte er in besänftigendem Tonfall. »Hast du dir wehgetan?«
Er ging in die Hocke, stellte den Schminkkoffer ab und streckte die Hand vorsichtig aus, damit die Katze nicht unvermittelt nach ihm schlagen würde. Dann berührte er ihr Fell und zog die Finger sofort wieder zurück. Das Tier war eiskalt und völlig ausgemergelt – er konnte die steifen Knochen unter der Haut spüren. War es in diesem Moment gestorben? Nein, das Bein bewegte sich immer noch. Und dann ertönte wieder ein leises Miau.
Er berührte es erneut. Moment mal, das unter dem Fell waren ja gar keine
Knochen
, sondern Stangen, und im Innern des Körpers befand sich ein Metallkasten.
Scheiße, was sollte das?
War das hier die
Versteckte Kamera
? Oder wollte ihm bloß irgendein Arschloch einen Streich spielen?
Dann hob er den Kopf und entdeckte in drei Metern Entfernung eine Gestalt. Calvert keuchte auf und wich zurück. Da kauerte ein Mann…
Nein, doch nicht, erkannte er. Das war er selbst, und zwar als Bild in einem großen Spiegel, der am Ende der dunklen Abzweigung in der Ecke stand. Calvert sah das eigene Gesicht, die Augen weit aufgerissen und war einen Moment lang starr vor Schreck. Er atmete tief durch und lachte leise. Dann aber runzelte er die Stirn, denn er sah sich langsam vornüberkippen – weil der Spiegel auf das Pflaster fiel und zerbrach.
Der bärtige Mann mittleren Alters, der sich dahinter versteckt hatte, sprang vor und hob ein langes Metallrohr.
»Nein! Hilfe!«, rief Calvert und stolperte zurück. »Mein Gott! Mein Gott!«
Das Rohr sauste mit Wucht auf seinen Kopf zu.
Tony jedoch riss den Schminkkoffer hoch und blockte den Schlag ab. Dann rappelte er sich auf und rannte los. Der Angreifer wollte ihm folgen, rutschte aber auf den glatten Pflastersteinen aus und fiel hart auf ein Knie.
»Nehmen Sie das Geld! Nehmen Sie es!« Calvert zerrte seine Brieftasche aus der Jacke und schleuderte sie hinter sich, aber der Mann achtete nicht darauf, sondern folgte ihm. Er befand sich zwischen Tony und der Straße; somit blieb nur der Weg zurück ins Gebäude.
O Gott, o Gott, o Gott…
»Hilf mir, hilf mir, hilf mir!«
Schlüssel!, dachte er. Hol die Schlüssel raus! Er zog sie aus der Jeans und warf einen kurzen Blick über die Schulter. Der Mann war keine zehn Meter hinter ihm. Falls ich die Tür nicht im ersten Anlauf aufbekomme, dann war’s das… dann bin ich tot.
Calvert wurde nicht mal langsamer. Er krachte gegen das metallene Türblatt, traf – o Wunder – sofort das Schlüsselloch und drehte den Schlüssel herum. Der Riegel glitt zurück, Tony zog den Schlüssel heraus, sprang ins Haus und riss die Stahltür zu. Das Schnappschloss rastete automatisch ein.
Sein Herz schlug ihm vor Angst bis zum Hals. Keuchend hielt er kurz inne. Ein Straßenräuber? Schwulenhasser? Junkie? Egal, dachte er. Dieser Dreckskerl darf nicht davonkommen.
Er lief den Flur entlang zu seiner Wohnung, öffnete auch diese Tür in Windeseile, sprang hinein, knallte die Tür zu und schloss sie ab.
Dann rannte er in die Küche, packte den Telefonhörer und wählte die Notrufnummer. »Notrufzentrale der Polizei und Feuerwehr«, meldete sich gleich darauf die Stimme einer Frau.
»Ein Mann! Ein Mann hat mich angegriffen! Er ist draußen!«
»Sind Sie verletzt?«
»Nein, aber Sie müssen die Polizei schicken!«, rief er. »Schnell!«
»Ist er dort bei Ihnen?«
»Nein, er ist nicht ins Haus gekommen. Ich habe die Türen abgeschlossen. Aber er könnte immer noch in der Gasse sein! Sie müssen sich beeilen!«
Was war das?, wunderte er sich, denn er spürte plötzlich einen Lufthauch im Gesicht. Das Gefühl kam ihm irgendwie vertraut vor, und dann begriff er, dass es sich um den Durchzug handelte, der entstand, wenn jemand die Wohnungstür öffnete.
»Hallo, Sir, sind Sie noch da?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung. »Können Sie…?«
Calvert wirbelte herum und schrie auf. Nur ein kurzes Stück vor ihm stand der Bärtige mit dem Rohrstück und zog in aller Ruhe das Telefonkabel aus der Wand. Die Türen! Wie hatte der Kerl die Schlösser geöffnet?
Tony wich zurück – bis zum Kühlschrank; weiter ging es
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