Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
haben uns den aufgezeichneten Notruf angehört. Calvert hat es bis in die Wohnung geschafft und dort das Telefon benutzt. Laut seinen Angaben konnte er den Täter aussperren und beide Türen abschließen. Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Der Hexer ist ihm irgendwie gefolgt.«
»Vielleicht durchs Fenster – Sachs, hast du die Feuertreppe überprüft?«
»Nein. Das entsprechende Fenster war von innen verriegelt.«
»Du hättest dich dennoch vergewissern sollen«, sagte Rhyme schroff.
»Er ist nicht auf diesem Weg hineingekommen. Es blieb nicht genug Zeit.«
»Tja, dann muss er wohl Calverts Schlüssel gehabt haben«, sagte der Kriminalist.
»Es waren keine Fingerabdrücke darauf«, wandte Sachs ein. »Nur die des Opfers.«
»Er muss aber«, beharrte Rhyme.
»Nein«, widersprach Kara. »Er hat das Schloss geknackt.«
»Unmöglich«, sagte Rhyme. »Vielleicht hat er sich irgendwann vorher einen Wachsabdruck der Schlüssel besorgt. Sachs, du solltest noch einmal dorthin fahren und überprüfen, ob…«
»Er hat das Schloss geknackt«, wiederholte die junge Frau unbeirrt. »Ich bin mir absolut sicher.«
Rhyme schüttelte den Kopf. »Er soll innerhalb von sechzig Sekunden zwei Türen geöffnet haben? Auf gar keinen Fall.«
Kara seufzte. »Tut mir Leid, aber, ja, er hat innerhalb von sechzig Sekunden zwei Türen geöffnet. Und eventuell war er sogar
noch
schneller.«
»Nun, lassen Sie uns einstweilen annehmen, dass es nicht so war«, sagte Rhyme abweisend. »Wenn also…«
»Nein, verdammt«, protestierte die junge Frau. »Hören Sie, wir dürfen das nicht einfach ignorieren. Es verrät uns etwas Neues über ihn – etwas Wichtiges: dass verschlossene Türen für ihn kein Hindernis darstellen.«
Rhyme sah Sellitto an.
»Damals beim Raubdezernat hab ich ein Dutzend Einbrecher festgenommen, und keiner von denen konnte dermaßen schnell ein Schloss öffnen«, sagte der Detective.
»Mr. Balzac lässt es mich zehn Stunden pro Woche üben«, sagte Kara. »Ich habe mein Werkzeug nicht dabei. Andernfalls könnte ich Ihre Haustür in dreißig Sekunden aufbekommen und den zusätzlichen Riegel in einer Minute. Und ich beherrsche die Scheuertechnik nicht. Falls der Hexer gut darin ist, halbiert das die benötigte Zeit. Ich weiß, dass Sie greifbare Spuren bevorzugen, aber es wäre reine Zeitverschwendung, Amelia nach etwas suchen zu lassen, das nicht existiert.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Sellitto.
»Wenn Sie meinem Urteil nicht trauen, wieso wollen Sie dann meine Unterstützung?«
Sachs sah Rhyme an. Mit einem widerwilligen Nicken und starrer Miene gab er nach (wenngleich es ihm insgeheim gefiel, dass die Frau Rückgrat bewies; es wog den
Blick
und das
Lächeln
ein wenig auf). »Okay«, sagte er zu Thom. »Schreib auf, dass unser Mann außerdem erstklassig mit einem Dietrich umgehen kann.«
»Wir wissen nicht genau, womit der Hexer das Opfer niedergeschlagen hat«, fuhr Sachs fort. »Die Kopfverletzung stammt von einem stumpfen Gegenstand. Es könnte ein Rohr gewesen sein, aber der Täter hat es mitgenommen.«
Das Material der Fingerabdruckspezialisten traf ein. Sie hatten am Tatort und an den mutmaßlich vom Hexer berührten Stellen insgesamt neunundachtzig Abdrücke genommen. Rhyme sah sofort, dass einige irgendwie merkwürdig wirkten, und erkannte bei näherer Betrachtung, dass sie von den falschen Fingerkuppen stammten. Daraufhin machte er sich gar nicht erst die Mühe, den Rest der Aufnahmen zu sichten.
Sie wandten sich nun den von Sachs sichergestellten Spuren zu und stießen auf winzige Mengen des gleichen anorganischen Öls, das sie am Morgen in der Musikschule gefunden hatten. Auch Latex, Make-up und Alginat waren abermals vorhanden.
Detective Kuan vom Neunten Revier rief an und berichtete, die Durchsuchung der Mülltonnen im näheren Umkreis von Calverts Haus habe keinen Hinweis auf die Verkleidung des Täters oder auf eine der Mordwaffen erbracht. Rhyme bedankte sich und bat ihn, das Suchgebiet auszudehnen. Der Mann erklärte sich zwar einverstanden, klang dabei aber viel zu diensteifrig, was Rhyme zu der Erkenntnis brachte, dass die Suchaktion bereits abgeblasen worden war.
»Du sagst, er hat auch Calverts Uhr zertrümmert?«, fragte er Sachs.
»Ja. Genau um zwölf. Ein paar Sekunden danach.«
»Bei dem anderen Opfer war es acht Uhr. Offenbar folgt er einer Art Zeitplan. Und vermutlich ist heute Nachmittag um vier die nächste Person an der Reihe.«
Von jetzt an gerechnet in weniger
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