Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
als drei Stunden.
»Der Spiegel hilft uns nicht weiter«, meldete Cooper sich zu Wort. »Kein Herstellername – der muss auf dem Rahmen gestanden haben und wurde weggeschabt. Ein paar echte Fingerabdrücke, aber die sind halb unter denen seiner Fingerkappen verschwunden, also stammen sie wahrscheinlich von einem Verkäufer oder jemandem aus der Herstellerfirma. Ich schicke sie trotzdem an AFIS.«
»Ich hab hier zwei Schuhe«, sagte Sachs und nahm eine Tüte aus einem Karton.
»Seine?«
»Anscheinend. Marke Ecco, genau wie in der Musikschule – und die Größe stimmt ebenfalls überein.«
»Er hat sie zurückgelassen. Warum?«, überlegte Sellitto.
»Ich nehme an, ihm war bewusst, dass wir aufgrund der Spuren vom ersten Tatort die Marke mittlerweile kennen würden«, sagte Rhyme. »Und in seiner Verkleidung als ältere Frau musste er befürchten, bei den Streifenbeamten mit solchem Schuhwerk Verdacht zu erregen.«
Mel Cooper nahm sich die Schuhe vor. »In der Kerbe vor dem Absatz und zwischen Oberleder und Sohle klebt eine ganze Menge Zeug«, sagte er, öffnete eine Tüte und kratzte die Partikel ab. »Ein wahres Füllhorn«, murmelte er geistesabwesend und beugte sich über das Material.
Die Äußerung schien angesichts der paar Krümel etwas übertrieben, doch für ihre Zwecke hatten sie hier geradezu einen Berg vor sich, der allerlei Informationen erbringen konnte. »Pack es unter das Mikroskop, Mel«, befahl Rhyme. »Lass uns mal sehen, was wir hier haben.«
Das Mikroskop gehörte in jedem kriminaltechnischen Labor zu den meistverwendeten Instrumenten, und obwohl es im Laufe der Jahre vielfach weiterentwickelt worden war, unterschied sein Funktionsprinzip sich kaum von dem des winzigen Messinggeräts, das der Niederländer Antonie van Leeuwenhoek im siebzehnten Jahrhundert angefertigt hatte.
Neben einem uralten und nur selten benötigten Rasterelektronenmikroskop verfügte Rhyme in seinem Privatlabor noch über zwei weitere Mikroskope. Eines davon war ein herkömmliches Leitz Orthoplan, ein älteres, aber vielfach erprobtes Modell mit zwei Okularen und einer mittig angebrachten Kamera.
Das andere – und nun erforderliche – Exemplar war ein Stereomikroskop. Cooper hatte damit bereits die Fasern vom ersten Tatort untersucht. Es besaß eine relativ geringe Vergrößerungsstärke und wurde zur Begutachtung dreidimensionaler Objekte genutzt, beispielsweise Insekten oder Pflanzenpartikel.
Das Abbild der Probe erschien für Rhyme und die anderen auf dem Computermonitor.
Angehende Kriminalisten im ersten Studienjahr wählten bei der Untersuchung von Beweismaterial ausnahmslos die höchstmögliche Vergrößerung eines Mikroskops. In der Praxis lag der Wert zumeist sehr viel niedriger. Cooper fing mit einer vierfachen Vergrößerung an und steigerte sie schrittweise bis zum Faktor 30.
»Ah, schärfer, schärfer«, rief Rhyme.
Der Techniker drehte an einem Einstellring des Objektivs, bis die Probe deutlich zu erkennen war.
»Okay, verschaffen wir uns einen Überblick«, sagte Rhyme.
Mit den Bedienelementen des Stativs ließ Cooper den Objektträger an der Linse vorbeiziehen. Hunderte von Formen wanderten über den Bildschirm, manche schwarz, andere rot oder grün, einige lichtdurchlässig. Rhyme kam sich beinahe wie ein Voyeur vor, so als blicke er auf eine Welt herab, die nichts von dem Beobachter ahnte.
Eine Welt, die womöglich aufschlussreiche Botschaften in sich barg.
»Haare«, sagte Rhyme mit Blick auf einen langen Strang. »Tierhaare.« Die Anzahl der Schuppen verriet es ihm.
»Was genau?«, fragte Sachs.
»Hund, würde ich sagen«, antwortete Cooper. Rhyme war der gleichen Meinung. Der Techniker stellte eine Verbindung zur Tierhaardatenbank des NYPD her und ließ die Probe überprüfen. »Wir haben hier zwei verschiedene Rassen, nein, drei. Eine hat ein mittellanges Fell. Deutscher Schäferhund oder Malinois. Die anderen beiden sind länger. Englischer Schäferhund oder Briard.«
Cooper wandte sich wieder dem Mikroskop zu und rückte den Objektträger ein kleines Stück zur Seite. Sie sahen eine Masse aus bräunlichen Körnern, Stängeln und Röhren vor sich.
»Was ist denn dieses lange Zeug?«, fragte Sellitto.
»Fasern?«, mutmaßte Sachs.
»Trockenes Gras, glaube ich«, sagte Rhyme. »Jedenfalls stammt es von einer Pflanze. Aber dieses andere Material gibt mir Rätsel auf. Schick es durch den Chromatographen, Mel.«
Wenig später lag das Ergebnis der spektrometrischen Analyse vor.
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