Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
Auf dem Bildschirm erschien eine Liste der Inhaltsstoffe: Gallenflüssigkeit, Sterkobilin, Urobilin, Indol, Nitrat, Skatol, Merkaptan, Schwefelwasserstoff.
»Ah.«
»Ah?«, fragte Sellitto. »Was heißt ›ah‹?«
»Kommando, Mikroskop Eins«, befahl Rhyme. Das vorherige Bild kehrte auf den Monitor zurück. »Es ist ganz offensichtlich«, erklärte er dem Detective. »Fäulnisprodukte, teilweise verdaute Fasern und Gras. Das da ist Kacke. Oh, bitte verzeiht meine Ausdrucksweise«, fügte er sarkastisch hinzu. »Es handelt sich um Hundekot. Unser Täter ist in einen Haufen getreten.«
Das war eine erfreuliche Nachricht; die Haare und Kotpartikel ließen sich gut klassifizieren, und falls man bei einem Verdächtigen, an einem bestimmten Ort oder in einem Fahrzeug ähnliche Spuren sicherstellte, bedeutete dies mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass eine Verbindung zu dem Hexer bestand.
Das Resultat der AFIS-Anfrage traf ein. Die auf den Spiegelscherben gefundenen Fingerabdrücke waren nirgendwo registriert, doch damit hatte hier ohnehin niemand gerechnet.
»Was haben wir sonst noch vom Tatort vorliegen?«, fragte Rhyme.
»Nichts«, erwiderte Sachs. »Das war alles.«
Rhyme überflog noch einmal die Einträge auf der Wandtafel, als es an der Tür klingelte. Thom ging hin und kehrte mit einem uniformierten Beamten zurück. Der Mann blieb schüchtern am Eingang stehen, so wie die meisten jungen Polizisten oder Staatsanwälte, die zum ersten Mal das Reich des legendären Lincoln Rhyme betraten. »Ich bin auf der Suche nach Detective Bell. Man hat mir gesagt, er sei hier.«
»Ich bin Bell«, meldete sich der Detective.
»Der Bericht der Spurensicherung. Vom Einbruch in Charles Gradys Büro.«
»Danke, mein Freund.« Der Detective nahm den Umschlag entgegen und nickte dem jungen Mann zu, der nach einem kurzen zaghaften Blick auf Lincoln Rhyme kehrtmachte und ging.
Bell blätterte die Seiten durch und zuckte die Achseln. »Das ist nicht mein Fachgebiet. He, Lincoln, könnten Sie vielleicht mal einen Blick darauf werfen?«
»Na klar, Roland«, sagte Rhyme. »Ziehen Sie die Heftklammern heraus, und legen Sie die Seiten auf das Umblättergerät. Thom kann das übernehmen. Worum geht’s bei der Sache? Hat es mit dem Fall Andrew Constable zu tun?«
»Ja.« Er erzählte Rhyme von dem nächtlichen Einbruch. Sobald der Betreuer den Bericht eingelegt hatte, fuhr Rhyme in Position und las aufmerksam die erste Seite. »Kommando, Umblättern.« Er las weiter.
Man hatte vom Flur aus einfach das Türfenster eingeschlagen, hineingegriffen und das Schloss entriegelt. Die Tür zwischen dem Vorzimmer der Sekretärin und dem Büro des Staatsanwalts besaß hingegen zwei Schlösser, war aus dickem Holz gefertigt und hatte dem Einbrecher widerstanden.
Die Leute von der Spurensicherung waren auf ein paar interessante Dinge gestoßen, wie Rhyme nun herausfand. Auf und neben dem Schreibtisch der Sekretärin hatten einige Fasern gelegen. Im Bericht wurde lediglich die Farbe angegeben, sonst nichts – die meisten waren weiß, einige schwarz und eine einzige rot. Ferner hatte man zwei winzige Teilchen einer Goldfolie sichergestellt.
Laut den Ermittlungen war der Einbruch erst nach dem Durchgang des Reinigungspersonals geschehen, also stammten die Fasern vermutlich nicht von Gradys Sekretärin oder einem regulären Besucher des Büros, sondern von dem Eindringling.
Rhyme las die letzte Seite. »Das ist
alles
?«, fragte er.
»Sieht so aus«, sagte Bell.
Der Kriminalist gab einen mürrischen Laut von sich. »Kommando, Telefon. Anrufen, Peretti Komma Vincent.«
Rhyme hatte Peretti vor einigen Jahren bei der Spurensicherung eingestellt und als begabten Mitarbeiter kennen gelernt. Echte Höchstleistungen vollbrachte der Mann jedoch auf dem weitaus esoterischeren Gebiet der internen Behördenpolitik, das ihm – im Gegensatz zu Rhyme – sehr viel besser gefiel als die eigentliche Tatortarbeit. Mittlerweile war Peretti Leiter der Investigation and Resources Division (IRD) des NYPD und somit auch Chef der Spurensicherung.
Es dauerte eine Weile, bis Rhyme zu ihm durchgestellt wurde. »Lincoln, wie geht’s dir?«, erklang es schließlich aus dem Hörer.
»Gut, Vince. Ich…«
»Du arbeitest an dieser Hexer-Geschichte, nicht wahr? Wie kommt ihr voran?«
»Ganz passabel. Hör mal, ich rufe wegen einer anderen Sache an. Roland Bell ist gerade hier. Er hat den Bericht über den Einbruch in Staatsanwalt Gradys Büro erhalten…«
»Ach, der
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