Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
einem kräftigen Justizbeamten stehen. Der Gefangene war ziemlich groß und hielt sich kerzengerade. Er hatte leicht ergrautes, dichtes gewelltes Haar. Neben ihm stand sein kleiner dicker Anwalt.
»Gehören Sie zu Mr. Gradys Beschützern?«, fragte er.
»Andrew«, mahnte sein Anwalt.
Der Häftling nickte, sah Sachs aber weiterhin fragend an.
»Ich arbeite nicht an diesem Fall«, entgegnete sie reserviert.
»Ach, nein? Ich wollte für Sie nämlich wiederholen, was ich auch schon zu Detective Bell gesagt habe. Ehrlich, ich weiß nicht das Geringste über diese Drohungen gegen Mr. Grady.« Er wandte sich Bell zu. Der Cop wirkte bisweilen schüchtern und zurückhaltend, doch niemals im Angesicht eines Verdächtigen. Auch jetzt hielt er dem Blick kühl und gelassen stand.
»Sie tun nur Ihre Pflicht«, sagte Constable. »Ich habe Verständnis dafür. Aber bitte glauben Sie mir, ich würde Mr. Grady niemals ein Leid zufügen. Immerhin gehört Fairness zu den Dingen, die dieses Land groß gemacht haben.« Er lachte. »Ich werde ihn vor Gericht besiegen. Davon bin ich
absolut
überzeugt – und zwar dank meines brillanten jungen Freundes hier.« Er deutete auf seinen Anwalt. Dann wirkte er plötzlich neugierig. »Eines wollte ich noch erwähnen, Detective Bell. Ich habe mich gefragt, ob es Sie vielleicht interessiert, was meine Patrioten da oben in Canton Falls die ganze Zeit machen.«
»Wie bitte?«
»Oh, ich meine nicht diesen Blödsinn über angebliche Verschwörungen, sondern worum es uns wirklich geht.«
»Lassen Sie’s gut sein, Andrew«, sagte der Anwalt des Gefangenen. »Es ist besser, Sie halten den Mund.«
»Wir plaudern doch nur ein wenig, Joe.« Ein Blick zu Bell. »Also, wie sieht’s aus?«
»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Sir«, antwortete der Detective mit hörbarem Widerwillen.
Doch es folgte nicht die befürchtete Anspielung auf Bells Südstaatenherkunft und den dort verbreiteten Rassismus. »Die Rechte der Bundesstaaten, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung, das Für und Wider einer dezentralen Regierung«, sagte Constable stattdessen. »Sie sollten sich mal unsere Internetseite ansehen, Detective.« Er lachte. »Die Leute rechnen mit Hakenkreuzen, aber sie bekommen Thomas Jefferson und George Mason.«
Als Bell nichts darauf erwiderte, legte sich drückende Stille über den warmen Raum. Der Häftling schüttelte verlegen den Kopf. »Herrje, bitte verzeihen Sie… Manchmal geht einfach mein Temperament mit mir durch – immer diese lächerlichen Predigten. Kaum stehen ein paar Leute um mich herum, ist es auch schon passiert – ich merke nicht, wann ich aufhören sollte.«
»Gehen wir«, sagte der Wärter.
»Also gut«, entgegnete der Gefangene, nickte erst Sachs, dann Bell zu und schlurfte den Gang hinunter. Die Kette der Fußfesseln klirrte leise. Sein Anwalt verabschiedete sich mit stummem Gruß von Grady – zwei Gegenspieler, die einander respektierten und gleichzeitig misstrauten – und verließ den Sicherheitsbereich.
Kurz darauf schlugen Grady, Bell und Sachs denselben Weg ein und gesellten sich zu Martinez.
»Er wirkt gar nicht wie ein Ungeheuer«, sagte Amelia. »Was genau wirft man ihm vor?«
»Ein paar verdeckte Ermittler der Bundesbehörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen haben im Staat New York illegale Waffengeschäfte untersucht und sind dabei auf ein Komplott gestoßen, hinter dem nach unserer Ansicht Constable steckt«, erklärte Grady. »Einige seiner Leute sollten mit fingierten Notrufen Streifen der Staatspolizei in entlegene Winkel des Bezirks locken. Sofern unter den Beamten Schwarze waren, wollte man sie entführen, nackt ausziehen und lynchen. Von Kastration ist übrigens auch die Rede gewesen.«
Sachs hatte im Laufe ihrer Dienstjahre bereits eine Vielzahl schrecklicher Verbrechen erlebt, doch diese bestürzende Neuigkeit ließ sie ungläubig aufmerken. »Meinen Sie das ernst?«
Grady nickte. »Und das sollte nur der Anfang sein. Offenbar stand im Hintergrund eine Art Masterplan. Man hoffte, mit zunehmender Anzahl der Polizistenmorde das Interesse des Fernsehens zu erregen. Die Bilder der aufgeknüpften Farbigen sollten eine Art Aufstand der schwarzen Bevölkerung bewirken und den Weißen überall im Land einen Grund liefern, Vergeltung zu üben und die Aufrührer auszulöschen. Wenn alles nach Wunsch verlief, würden die Latinos und Asiaten sich den Schwarzen anschließen und könnten im Zuge der weißen Revolution gleich mit erledigt
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