Der faule Henker - Deaver, J: Faule Henker - The Vanished Man
ernsten Gesicht, die mit Reithose, roter Jacke und samtschwarzem Helm bekleidet war, unter dem ein langer blonder geflochtener Zopf hervorschaute.
Als sie den Park erreichten, sah Marston kurz nach Süden und erspähte in der Ferne das Bürogebäude in Midtown, wo sie fünfzig Stunden pro Woche als Firmenanwältin arbeitete. Sie hätte sich über ihren Job und all die »supereiligen Projekte«, wie einer ihrer Partner sich mit ärgerlicher Häufigkeit auszudrücken pflegte, nun ohne weiteres den Kopf zerbrechen können, aber nichts dergleichen kam ihr in den Sinn. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn es fiel alles von ihr ab, sobald sie hier auf einem von Gottes herrlichsten Geschöpfen saß, die Sonne im Gesicht spürte, den Lehmboden roch und mit Donny Boy über den dunklen Pfad trabte, umgeben von jungen Narzissenblüten, Forsythien und Flieder.
Es war der erste schöne Frühlingstag in diesem Jahr.
Eine halbe Stunde lang umrundete sie in aller Ruhe das große Wasserreservoir und schwelgte in dem herrlichen Gefühl, eine Verbindung mit einem anderen Wesen eingegangen zu sein, sodass sie einander ergänzten, ein jeder auf eigene Weise kraftvoll und klug. Sie ritt einen kurzen Galopp und fiel wieder in den Trab zurück, als sie die scharfen Wegbiegungen im wenig bevölkerten Nordteil des Parks nahe Harlem erreichte.
Alles war friedlich.
Bis auf einmal ein Unglück geschah.
Sie war sich nicht ganz sicher, wie es dazu kommen konnte. Gerade als sie in langsamem Tempo eine schmale Lücke zwischen zwei Büschen passieren wollte, flatterte eine Taube Donny Boy genau ins Gesicht. Wiehernd hielt er dermaßen abrupt an, dass Marston beinahe abgeworfen wurde. Dann bäumte er sich auf, und sie rutschte fast nach hinten über die Kruppe.
Sie packte seine Mähne und die Vorderkante des Sattels, um nicht zweieinhalb Meter auf den felsigen Boden zu stürzen. »Ruhig, Donny«, rief sie und versuchte, seinen Hals zu tätscheln. »Donny Boy – es ist alles in Ordnung. Ruhig!«
Dennoch tänzelte er weiterhin panisch auf der Hinterhand umher. Hatte er sich bei dem Zusammenprall am Auge verletzt? Trotz aller Sorge um das Pferd fürchtete Marston auch um ihre eigene Gesundheit. Zu beiden Seiten ragten scharfkantige Steine aus dem unebenen Boden. Falls Donny Boy sich nicht beruhigte, würde er womöglich das Gleichgewicht verlieren und sie unter sich begraben. Nahezu alle schweren Reitunfälle, die Marston im Bekanntenkreis mitbekommen hatte, waren auf diese Weise entstanden und nicht etwa durch einen einfachen Sturz vom Pferderücken.
»Donny!«, stieß sie keuchend hervor. Aber er bäumte sich schon wieder auf und kam auf den Hinterbeinen den Felsen immer näher.
»Mein Gott«, rief Marston. »Nein, nein…«
Sie merkte, dass sie vollständig die Kontrolle verlor. Donnys Hufe klapperten auf den Steinen, und sie spürte die riesigen Muskeln vor Panik zittern, als der Hengst merkte, wie seine Balance schwand. Er wieherte laut.
Ihr Bein würde dutzendfach gebrochen sein. Ihr Brustkorb vielleicht auch.
Sie ahnte die Schmerzen bereits. Und sie konnte spüren, welch große Angst
er
hatte.
»O Donny…«
Dann tauchte wie aus dem Nichts ein Mann im Jogginganzug zwischen den Büschen auf, starrte mit großen Augen das Pferd an, sprang gleich darauf vor und packte Gebiss und Zaumzeug.
»Nein, nicht!«, schrie Marston. »Er dreht durch!«
Donny würde dem Mann den Schädel eintreten.
»Gehen Sie aus dem…«
Aber… was war das?
Der Mann achtete nicht auf sie, sondern blickte dem Pferd direkt in die braunen Augen und sagte etwas, das sie nicht verstand. Es war kaum zu glauben, doch der Appaloosa beruhigte sich und stellte die Vorderbeine wieder auf den Boden. Donny Boy blieb nervös und zitterte immer noch – genau wie sie selbst –, aber das Schlimmste schien überstanden zu sein. Der Mann zog den Kopf des Pferdes nach unten zu sich und sprach noch ein paar Worte.
Schließlich trat er zurück, schenkte dem Tier ein beifälliges Lächeln und legte den Kopf in den Nacken. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ich glaube schon.« Marston atmete tief durch und legte sich eine Hand auf die Brust. »Es ist nur… Das alles kam so plötzlich.«
»Was war denn los?«
»Ein Vogel hat ihn erschreckt. Ist ihm genau ins Gesicht geflogen. Wurde er am Auge getroffen?«
Der Mann schaute nach. »Sieht nicht so aus. Vielleicht sollten Sie lieber einen Tierarzt konsultieren, aber ich kann keine Verletzung entdecken.«
»Wie
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