Der Favorit der Zarin
nichts Abstraktes oder Phantastisches hat.«
»Gut, schießen Sie los«, sagte Nicki sofort.
»Also. Es war einmal ein Mann, der lebte achtundzwanzig Jahre mit seiner Frau zusammen; damit wir eine runde Zahl haben, sagen wir mal: dreißig Jahre. Kinder hatten die beiden nicht. Das ist wichtig, denn wenn Kinder da sind, verteilt sich die Liebe gewöhnlich auf mehrere, in unserem Fall aber konzentrierten sich alle Gefühle auf einen einzigen Punkt. Kurz gesagt: Dieser Mann liebte sie sehr . . . das heißt eigentlich liebt er seine Frau bis jetzt. Man kann sagen, sie ist für ihn der einzige Lichtblick.«
Nicholas hörte mit zusammengezogenen Brauen zu – er konnte sich schon vorher ausrechnen, dass die Erzählung nicht gerade angenehm sein würde, ähnlich wie die von den Geiseln.
Und so kam es denn auch.
»Plötzlich entdeckt man bei seiner Frau eine Krankheit. Eine schwere, vielleicht sogar unheilbare . . .«, betonte Kusnezow und machte eine Pause, damit seine Worte auf den Zuhörer wirken konnten.
Das taten sie sofort, Fandorin bekam einen leidenden Gesichtsausdruck. Nicholas hatte eine Eigenart, ja sozusagen einen richtig professionellen Zug: Wenn jemand von seinen Problemen erzählte, versetzte das Haupt des »Landes der Räte« sich nicht einfach in dessen Lage, sondern verwandelte sich vorübergehend sogar in diesen Menschen. So hatte er auch jetzt natürlich sofort ein Bild vor Augen: Altyn kommt vom Arzt, blickt zur Seite und sagt mit unnatürlich ruhiger Stimme: »Reg dich nur nicht auf, das ist noch nicht sicher, er sagt, man muss das nur ausschließen . . .« Brrr!
Er zuckte zusammen, aber der Quälgeist entfaltete sein »Rätsel« seelenruhig weiter:
»Klar, dass der Mann in Panik geriet. Er wandte sich hierhin und dahin. Hilfe, gute Leute, schrie er, rettet mich, helft mir! Und es fanden sich sofort gute Leute, die helfen und retten wollten. Sie finden sich nach Hilferufen immer sofort ein und schnuppern, ob da Geld für sie zu holen ist. Wenn es nach Geld riecht, versprechen, ja garantieren sie glatt Wunder. Früher, in den Zeiten des verfluchten Totalitarismus gab es keine Wunder: Wenn man eine Krankheit heilen konnte, heilte man sie; wenn nicht, sagten sie: Die Medizin ist ohnmächtig. Aber jetzt gibt es ja nichts Unmögliches mehr, stimmt’s? Erfolgsgarantie«, sagte Kusnezow augenzwinkernd und zitierte damit die Anzeige des »Landes der Räte«. »Er brauchte nur Geld. Das Geld des Mannes war allerdings schnell aufgebraucht, ohne dass sich ein Wunder einstellen wollte. Das ist also das Rätsel: die Zeit drängt, die Frau liegt im Sterben, da kann man nichts machen. Obwohl doch«, sagte der Sadist wollüstig lächelnd, »ich werde Ihnen ein noch schöneres Bild malen. Wenn man nichts machen kann, muss man sich eben damit abfinden. Nur stellen Sie sich einmal vor, hier wäre etwas zu machen. Allerdings weit weg, nämlich in der Schweiz. Es gibt dort eine wunderbare Klinik, die einzige, in der man eine solche lebensrettende Operation durchführt. Der Haken ist nur: Die Therapie kostet ein solches Geld, das der Mann nie im Leben aufbringen kann. Die genaue Höhe ist nicht so wichtig – wichtig ist nur, dass sie völlig über seine Verhältnisse geht. Sprechen wir mal einfach von einer Million. Na, Sie Experte für ausweglose Situationen, was würden Sie diesem Mann also raten?«
Das Lächeln verschwand spurlos, in der Stimme drohte ein Donnern, die Augen schleuderten Blitze gegen den Meister der guten Ratschläge.
Während er der traurigen Geschichte zuhörte, hatte Nicki ordentlich gelitten: er runzelte vor Schmerz die Stirn, seufzte tief und kritzelte Messer und Pfeile auf einen Zettel. Die Angelegenheit des Herrn Kusnezow war in der Tat reichlich kompliziert, beklemmend und leider wieder ganz ohne jede Aussicht auf einen Verdienst.
Fandorin schlug sein Notizbuch auf.
»Eine Million, das ist überhöht, so viel kostet keine Therapie«, sagte er finster. »Ich muss schon die genaue Summe wissen. Das zum Ersten. Zweitens: Ich brauche eine genaue Aufstellung über die bisherige Behandlung: Arztbriefe, Laborwerte, Krankengeschichte, Urteil der Spezialisten. Das Wichtigste ist, dass Sie nicht verzweifeln. Es gibt auf der Welt ja schließlich nicht nur schlechte Menschen. Es gibt internationale Stiftungen und Wohltätigkeitsorganisationen. Ich weiß keine Einzelheiten, weil ich selber noch nicht in einer solchen Situation war.« Er fügte in Gedanken hinzu: toi, toi, toi und klopfte dreimal
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