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Der Feigling

Der Feigling

Titel: Der Feigling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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unter der Last des Staubes. Drei Tische standen an
den Wänden verteilt, mit Holzstühlen der einfachsten Sorte. Ein Wartesaal
vierter Klasse nach Abfahrt des letzten Zuges.
    Und hier, zwischen diesen Leuten,
verkehrte der Greis.
    Barbara sah auf. Der Wirt hatte ein
Glas vor sie hingeschoben, weißer Schnaps bis zum Rand. Alle hatten sie solche
Gläser.
    Der Anwalt hob seins hoch und wippte
auf den Zehen. Ihr Rechtgläubigen«, begann er, »ich darf dieses Glas zum Anlaß
nehmen, eine Dame in unserem Kreise zu begrüßen. Es mag zwanzig oder auch mehr
Jahre her sein, daß wir zum letzten Male eine Dame hier begrüßt haben — sie
gehen meistens vorbei, woandershin — zum Diner — während uns der Hunger und die
Not aus den hohlen Augenhöhlen springen —, Freunde, was verschlägt’s — der
Edelmann stirbt entweder, oder er wird hingerichtet —«
    »Der Ritter zog vom Leder — halt, oder
stirb entweder!« murmelte Schulz.
    »Richtig! Sehr richtig — halt, oder
stirb entweder —, du sagst es — unser Altersheim ist die Pistolenkugel —, net
wahr — die bleibt uns immer —, vergänglich ist alles — aber Schönheit bleibt —
« ,
    »Ewig bleibt die Schönheit!« Der uralte
Doktor Meise reckte die Arme gegen den Staubfisch. Seine Gelenke knarrten
leise. »O Mädchen, ihr Träume von Göttern — zehntausend Jahre lebe ich schon
und liebe euch noch —«
    »Zehntausend langt jarnich«, kläffte
der kleine Fuchs.
    »Die Schönheit bleibt«, fuhr der Anwalt
fort, »immer bleibt etwas — semper aliquid haeret, wie der Lateiner sagt —,
aber in diesem Glas soll kein Tropfen hängenbleiben — ich leere es auf den
Sonnenstrahl, der in dieses Nachtasyl gefallen ist — , schließt euch an,
Asylanten — , Jakob — du hast Mut bewiesen — ein ungewöhnlicher Vorgang bei dir
—, um so anerkennenswerter — zum Wohle! Zum Wohle!« Er wippte noch einmal,
verneigte sich, goß das Glas hinunter.
    Die anderen taten das gleiche.
    Schulz und der Wirt sahen Barbara nicht
an, nur der Alte und Fuchs und der Feigling hoben die Gläser gegen sie, und
Zahmeis brüllte: »Die Weiber sind ein Mißgriff der Natur! Wo ist mein
Richtschwert?«
    Barbara trank aus. Der Schnaps drang
heiß in ihren Magen. Sie blies die Backen auf. »Uhh! Der hat es in sich!«
    »Hier ist doch kein Kindergarten«,
brummte Schulz. Eine Wolke taumelte um sein Haupt.
    »Herr Schulz! Ich bin neunzehn!«
    Der Statiker hielt seine Zigarre gen
Himmel. »Neunzehn! Sie ist neunzehn! Sie wagt noch, mit dieser Zahl zu protzen,
mit diesem Kleinkindalter! Wir sind zusammen über dreihuntert Jahre alt, und
sie ist neunzehn! Eierschalen hat sie noch am Hintern!«
    »So ist es!« Zahmeis krähte wieder.
»Eierschalen! Eine Henne!« Er erhob sich von seinem Tisch. Seine Beine hingen
an ihm. Er torkelte auf eine Tür zu.
    »Platz dem Landvogt!« schrie Fuchs
hinter ihm her. »Fall nicht rein! Das letzte Mal haben wir drei Stunden
gebraucht, um dich rauszukriegen!«
    Barbara sah den Feigling an. Er hob
bekümmert die Schultern. Sie stieß sich von der Theke ab und ging zur Musikbox.
Wo war sie hingeraten?
    Als sie zwischen den vergilbten
Etiketten herumsuchte, spürte sie, wie sich eine leichte Hand auf ihre Schulter
legte. Es war der Uralte.
    »Mein gutes Kind«, sagte er. Er sprach
mit leiser, singender Stimme. Seine Augen waren an der graugelben Decke. »Das
sind alles nette Leute. Glauben Sie einem Sterbenden.«
    »Sind Sie krank?« fragte Barbara.
    Er schüttelte milde den Kopf. »Nicht
krank, liebes Kind. Seit zehntausend Jahren sterbe ich und werde neu geboren.
Meine Väter sind die Götter Griechenlands.« Er zeigte mit seinem verwelkten
Finger in eine Ecke, als wären sie dort zu sehen. »Das hier sind alles Priester
einer besonderen Religion, und hier ist ihre Kapelle.«
    »Saufen! Schöne Religion!«
    »Aber nicht doch! Alkohol ist nur das
Medium, in dem sie schweben. Ihre Religion ist die Einsamkeit. Sie nennen es
den Preis für die Freiheit. Ich kenne ihren Irrtum, aber ich widerspreche ihnen
nicht. Wollen wir uns an den Tisch setzen?«
    »Gern«, sagte Barbara. Der Alte schien
vernünftig, trotz seiner zehntausend Jahre und seines ewigen Sterbens.
    Der Feigling sah, wie sie sich zum alten
Meise setzte. Der war noch am friedlichsten. Zahmeis kam zurück, plumpste auf
seinen Stuhl. Der Feigling blickte über alle Gesichter. Wuck, Schulz, Meise,
Carls, Fuchs, Zahmeis. Der Meister war unter ihnen, ohne Zweifel, er wollte
wissen, wer Barbara war, er wollte

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