Der Feigling
kommen!«
Barbara folgte erstaunt. Hinten war
eine Tür halb geöffnet, mattes Licht fiel heraus. Sie hörte die singende Greisenstimme
schon, bevor sie im Zimmer war. »Mein gutes Kind! Ist das eine Freude, daß Sie
mich besuchen! Vielen Dank, Herr Thomas! Kommen Sie, mein Kind!«
Herr Thomas schloß die Tür hinter
Barbara.
Der alte Doktor lag in einem schmalen,
hohen Bett in der rechten hinteren Ecke des Zimmers. Zwischen den Kissen war er
kaum zu erkennen.
Das Fenster war geöffnet, die Luft war
nicht so muffig wie auf dem Korridor, aber der Geruch nach Büchern und Papier
würde niemals mehr verschwinden.
Der Raum schien zum Wohnen, Schlafen,
Arbeiten zu dienen, auch zum Sterben eines Tages, und die Worte des Doktors
bestätigten es.
»Dort ist ein Stuhl! Ich habe nur
dieses Zimmer. Alles vermietet! Die Enge ist der Preis für meinen Lebensunterhalt!«
Sie fühlte seine Pergamenthand, kalt
und schlecht durchblutet. Er freute sich ehrlich.
»Ich war beim Frühschoppen und bei
Herrn Zahmeis — da hörte ich, daß Sie krank sind —, was haben Sie denn?«
Er richtete sich auf, kam etwas weiter
zwischen den Kissen heraus. »Ach, mein Kind! Es ist nichts Besonderes. Das
Alter! Die Boten des Todes. Eine kleine Erkältung, aber das Herz klappert dann
immer gleich. Es will mich ärgern.«
»Kein Wunder bei zehntausend Jahren«,
sagte Barbara.
Er strahlte. »Ich bin zehntausend Jahre
jünger, seitdem Sie durch die Tür getreten sind. Ach, es wird vorbeigehen. Ich
muß nur liegen und diese scheußlichen Tropfen nehmen. Was macht der liebe Jakob
Hase?«
Barbara schluckte. »Ich glaube, er muß
seinen Rausch ausschlafen.«
»Ah! Der Frühschoppen! Wie war es
denn?«
»Ganz unterhaltsam.«
»Das glaube ich! Ach, ich habe sie alle
gern. So wundervolle Anarchisten! Und was tat der Herr Zahmeis, unser wütender
Korse?«
»Er arbeitete«, antwortete Barbara und
dachte an den Flaschenzug. »Er war schon seit heute morgen dabei. Und dann
erzählte er von Napoleon und vom Feldzug nach Ägypten.«
»O ja! Napoleon, dieser Göttersohn!
Sein Liebling! Wie viele Schlachten haben wir auf dem Papier noch einmal
geschlagen! Alles ohne einen Schuß und einen einzigen Verwundeten! Nur so
sollte man Kriege führen. Wie sind Sie auf den Einfall gekommen, mich zu
besuchen?«
»Ach... ich kam ganz zufällig an seiner...
seinem Geschäft vorbei, weil ich fragen wollte, ob ich bei ihm etwas bekommen
kann... er erzählte, Sie wären krank, er gab mir Ihre Adresse. Da wollte ich
auf dem Rückweg Vorbeigehen... Sie haben sich so nett mit mir unterhalten im
Lokal...«
»Das war ein herrliches Erlebnis! Warum
haben Sie den lieben Jakob nicht mitgebracht?«
»Er weiß nicht, daß ich hier bin... ich
wußte es heute früh selber noch nicht...« sie stockte. Der Vorrat an Lügen war
erschöpft, und sie war so weit noch vom Ziel entfernt. Sehr fadenscheinig,
einen alten Mann zu besuchen, den man einmal in einem Ausschank gesehen hatte.
Bei Zahmeis hatten die Ausreden noch geholfen, dem konnte man sonstwas
erzählen. Aber hier, bei dem alten Mann, kam sie sich wie ein Schulmädchen vor,
das die Aufgaben nicht gerechnet hatte und sagte, sie hätte das Heft vergessen.
Sie beschloß von einer Sekunde zur
anderen, die Wahrheit zu sagen.
»Herr Doktor«, sagte sie. »Ich habe
geschwindelt.«
Er lächelte selig, als hätte sie ihm
eine Liebeserklärung geliefert. »Liebes Kind! Eine Frau schwindelt nie! Sie
weiß nur manchmal nicht genau, was die Wahrheit ist!«
»Ich weiß es genau«, sagte Barbara.
»Ich bin zu Ihnen gekommen, um etwas über Jakob Hase zu erfahren — und über die
Leute, mit denen er zusammen ist.«
Der Doktor lächelte weiter. »Ach. Das
ist interessant.«
»Darf ich es Ihnen erzählen?«
»Aber natürlich.« Er richtete sich noch
weiter auf. Auch das Nachthemd stammte aus der Zeit griechischer Götter.
Sie war aufgeregt und begann zu
rauchen, ohne gefragt zu haben.
»Es ist vielleicht dumm und alles
Blödsinn... ich habe das Gefühl, daß etwas nicht stimmt mit ihm. Ich habe ihn
kennengelernt, und er war prima. Aber mir fiel mehr und mehr auf, daß er feige
ist... er drückt sich vor allem und steckt alles ein. Gestern war ich mit einem
Bekannten in Ihrer Kneipe. Er und Hase bekamen Streit, meinetwegen. Sie
prügelten sich und... Hase ließ sich schlagen, er wehrte sich nicht, er hatte
wieder Angst. Es war scheußlich.« Sie saugte an der Zigarette, die Qualmwolke
wehte um ihre Köpfe, aber der Alte sagte
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