Der Feigling
vielleicht sollten Sie Vertrauen haben zu Jakob und zu den anderen.
Da freut er sich sicher. Ganz sicher.«
»Aber... warum ist er so? Muß er sich...
müssen sie sich verstecken vor jemandem?«
»Ach...«, er sprach viel zu langsam für
ihre Ungeduld, »verstecken würde ich nicht sagen... vielleicht tarnen... das
ist so ein scheußlich militärischer Ausdruck, aber er paßt eher...«
Barbara saß stumm. Es verwirrte sie,
was sie hörte. Es war beinahe noch unklarer als zuvor, alles ganz unwirklich,
und dazu dieses Zimmer mit dem uralten Mann aus einer anderen Welt. Erwachsene
Leute benahmen sich so, im zwanzigsten Jahrhundert, am hellichten Tage,
verstellten sich und spielten Verstecken. Die reine Gespenstergeschichte.
Sie fragte: »Ist es etwas
Gefährliches?«
Er hob die Hände zur Decke.
»Gefährlich! Was bedeutet gefährlich? Wir sind immer in Gefahr. Mitten im Leben
sind wir vom Tode umgeben... mors certa, hora incerta... sicher ist uns der
Tod, nur die Stunde ist ungewiß...«
Barbara beugte sich vor. Im Augenblick
war ihr nicht nach lateinischen Sinnsprüchen zumute. »Doktor Meise«, sagte sie
eindringlich. »Glauben Sie, daß es etwas Gefährliches ist?«
Er hielt die Hände still, sah ihr ins
Gesicht. Seine Stimme veränderte sich nicht, als er antwortete. »Nun, mein Kind...
man soll keine Furcht haben, und man soll niemandem welche machen. Es wäre
unrecht von mir, wenn ich es täte. Ich weiß auch viel zuwenig von alledem, und
vielleicht hätte ich gar nichts erzählen sollen. Ich möchte nur, daß Sie Jakob
vertrauen und nicht falsch von ihm denken. Ich habe keine Ahnung, womit sie
sich abgeben müssen. Aber ich könnte mir denken, daß der eine oder andere von
ihnen dabei zu Schaden kommt... vielleicht auch zu den unsterblichen Göttern.«
»Zu den unsterblichen Göttern«,
wiederholte sie.
Er ergriff ihre Hände. »Aber
beunruhigen Sie sich nicht! Ich bin ein alter Trottel! Es sind meine eigenen
Hirngespinste! Ich wollte nur Ihre Frage beantworten und Ihnen erklären, was
Sie nicht verstehen an Jakob und an den anderen!«
Barbara zwang sich zu einem Lächeln. Er
hatte ihr etwas erklärt, aber gleichzeitig ihre Unruhe gesteigert. Es war etwas
Beklemmendes in seinen Worten, sie wußte nicht, weshalb er überhaupt so mit ihr
sprach, es mußte eine Bedeutung haben, die sie nicht erkannte.
»Es war so nett von Ihnen«, sagte sie.
Er hob den Finger mit komisch
ängstlichem Gesichtsausdruck. »Aber verraten Sie mich nicht! Ich kriege sonst
kein Bier mehr von Friedrich!«
»Bestimmt nicht.« Sie wollte jetzt
fort, heraus aus diesem Zimmer, ein Betrunkener, ein Kranker, der ihr angst
machte, es war genug für heute. Noch etwas fiel ihr ein. »Doktor Meise«, sagte
sie zögernd. »Könnte man... an irgend etwas erraten, wann sie... wann es
gefährlich wird mit ihnen?«
Er faßte mit der Hand an sein Kinn. Zum
erstenmal sah sie einen fremden Ausdruck in seinen Augen, den sie nicht zu
deuten wußte. Ein holzgeschnitzter Kopf mit einem uralten Gesicht.
»Tja, mein Kind... das ist sehr, sehr
schwer zu sagen. Sehr schwer.« Seine Stimme sang wieder. »Es könnte, nach
meinem unsicheren Urteil, etwas bedeuten, wenn sie... wenn sie irgend etwas
gemeinsam unternehmen... etwas, wo sie alle zusammen sind...«
»Was?« fragte Barbara.
»Nun, ich könnte mir denken... wenn sie
zum Beispiel einen Ausflug machen«, sagte Doktor Meise.
*
Am Abend dieses Tages war der Feigling
allein. Zum erstenmal seit langer Zeit störten ihn die Einsamkeit und die
Stille der Wohnung. Ein paarmal ging er hinaus, um etwas zu trinken, im Spiegel
auf dem Flur sah er sein verschwollenes Auge, und er dachte an Barbara, die er
nicht mehr sehen würde. Vom zweiten Mai bis zum siebenundzwanzigsten, knappe
vier Wochen, schön war es gewesen und viel zu kurz. Keinen Zweck, daran zu
denken.
Der Anruf kam um halb neun, Jakob Hase
hatte darauf gewartet.
»Na, Johann Jakob«, sagte der Meister,
»was macht die Pupille?«
»Schön blau«, antwortete der Feigling.
»Indigo.«
»Kann ich mir denken. Schlägt der Junge
hart?«
»Mittel. Hab’ schon mehr Prügel
gekriegt.«
»Ja, leider, ich auch. Und noch dazu
von Leuten, in deren Gewichtsklasse ich gar nicht war. Ja, sehr schön, daß du
dich friedlich verhalten hast, mein Lieber. Hast ihm auch noch die andere Backe
hingehalten. Wie es die Bibel empfiehlt. Bist unser Renommierfeigling.«
»Natürlich.«
»Hm. Glaube nicht, daß der Boy zu den
feindlichen Indianern
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