Der Feigling
fiel ein, daß sie noch nie
einen Toten gesehen hatte. Heute war es das erste Mal. Sonntag,
neunundzwanzigster Mai 1961, gegen halb drei.
Sie wollte weglaufen.
Der Tote bewegte sich. Sein rechter Arm
kam nach vorn und zur Seite, als wollte er sich abstützen. Der Kopf hob sich.
Er bewegte die Lippen. Er lebte. Er war nicht tot.
Sie lief durch den Raum, vorgebeugt,
sah nicht, wo sie hintrat. Sie hatte Furcht, eine Wunde zu sehen, eine Waffe,
Blut, irgendwas Entsetzliches, Einbruch und Raubüberfall.
Sie sah nichts von alledem.
Herr Günther Zahmeis sah so
erschreckend aus, wie der Greis gestern ausgesehen hatte. Bleich und
verschwommen. Sie bemerkte am Boden zwei leere Bierflaschen, und zugleich war
ihr, als würde der Parfümnebel überdünstet von einem linden Geruch nach
Alkohol.
Herr Zahmeis war sturzbetrunken.
Barbara ballte die Fäuste. Sie stemmte
die Arme in die Taille. Sie konnte direkt fühlen, wie wütend sie aussah.
Der elende Kerl! Sie so zu erschrecken!
Am liebsten hätte sie ihn verprügelt.
Sie kniete sich neben ihn. »Herr
Zahmeis! Haben Sie was?«
Der Klang ihrer Stimme schien ihn nicht
zu verwundern. Offenbar war er es gewohnt, so vorgefunden zu werden. Er drehte
das Gesicht zu ihr. Seine Augen waren wie Löcher im Schnee.
»Wie?« Trotz des Zustandes konnte er
noch krähen. Ein erkennendes Grinsen folgte. »Ach! Das Mädchen aus der Hafenbar!
Die Ehebrecherin! Gott zum Gruß, liebes Wesen!« Der Kopf fiel wieder herunter.
»Kommen Sie nicht hoch?« Die Frage
schien Barbara blöde, kaum daß sie ausgesprochen war. »Warten Sie — ich helfe
Ihnen!«
»Häh«, machte er. »Liebes Kind — ich
fürchte, da wird nur der Flaschenzug helfen.«
»Ach was, Flaschenzug! Brauche ich
nicht!« Sie packte ihn unter den Achseln. Sie hatte Kraft. Im nächsten
Augenblick stand er auf den Füßen.
Seine schlaffe Hand deutete auf den
Schreibtischsessel. »Dorthin, wenn’s geht! Dann haben wir das Schwerste
geschafft!«
Sie schleppte den matten Körper um den
Tisch, trat mit dem Fuß den Stuhl zurück. Herr Zahmeis plumpste hinein. Seine
Hände hielten die Lehnen, er schwankte leise, aber er blieb senkrecht.
»Großartig! Werde Sie zu meiner
Leibsklavin machen!«
»Das fehlt mir!« Sie hatte den Schreck
überwunden. Das Ganze war zum Lachen.
»Jawohl!« Er wollte eine Hand erheben,
aber er brauchte beide, um sich festzuhalten. »Werde Sie auf Rosenblätter
betten! Jeden Tag können Sie in einem Parfümbrunnen baden...!«
»Und Sie im Bierbrunnen.«
»So ist es. Sehen Sie den Kühlschrank
dort?«
Barbara sah ihn.
»Dort befindet sich Bier. Der Kognak
steht daneben.«
»Wollen Sie weitersaufen?«
Die Frage schien ihn zu entrüsten.
»Weitersaufen? Ich habe noch gar nicht angefangen! Das war mein erstes
Frühstück. Jetzt kommt das zweite.«
»Sie werden wieder vom Stuhl fallen.«
»Dort ist eine Leine! Zurren Sie mich
fest, bevor Sie gehen! Wie einen Seemann an den Mast, wenn der Sturm sich
erhebt!«
Barbara ging kopfschüttelnd zu dem
Kühlschrank. Dort sah es aus wie in einem Bierdepot. Es war kaum etwas anderes
darin. Sie nahm zwei Flaschen heraus und fand den Kognak. Die Augen von Herrn
Zahmeis leuchteten.
»Sie haben mich gerettet! Am Boden wäre
ich verdurstet, wenn Sie nicht gekommen wären! Da sind Gläser!« Er wollte die
Kognakflasche schwenken, aber er schaffte es nicht. »The Brandy of Napoleon!
Ich trinke nie etwas anderes als der Kaiser!«
Erst jetzt bemerkte Barbara in den
Bücherregalen um den Schreibtisch das Steckenpferd des Herrn Zahmeis.
Napoleon. Nichts wie Napoleon.
Sein Verehrer hob das Glas mit
Anstrengung. »Was war im Mai — vor hundertdreiundsechzig Jahren?«
»Irgendwas mit Napoleon.«
»Jawohl! Er brach auf nach Ägypten! Die
Flotte lief aus, aus Toulon!«
»Aha. Deswegen sollte ich Sie auch am
Mast festzurren.«
»So ist es! Es lebe der Kaiser!«
»Er lebe«, sagte Barbara.
Der Kognak war gut. Auch das Bier
schmeckte. Hoffentlich vergaß sie nicht, weswegen sie hergekommen war.
»Wie war’s gestern noch?« fragte sie.
»Gestern? Turbulent! Ein Orkan! Man
mußte mich mit der Ambulanz heimschaffen.«
»Herrn Hase auch?«
»Den sowieso. Er war einäugig. Ihr
Freund hat ihn vernichtet!« Herr Zahmeis nahm den Inhalt seines Bierglases zu
sich. Es belebte ihn sichtlich.
»Eigentlich finde ich die Kneipe ganz
nett«, sagte Barbara. »Den Frühschoppen auch. Haben Sie sich alle per Zufall
dort getroffen?«
»Jawohl!
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