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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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nicht hereingebeten hatte, betrat ich die Diele.
    »Ich, ähm«, begann ich, weil ich meinen Text vergessen hatte,
    »ich wollte Holly etwas sagen. Etwas Wichtiges. Kann ich kurz mit hochkommen?«
    »Ich …«, sagte sie, aber ich stieg bereits die schmale Treppe zu ihrer Einzimmerwohnung hinauf.
    »Es dauert nur eine Minute oder so.«
    »Ich glaube, sie sind für ein paar Tage weggefahren«, erklärte sie, während sie die Tür aufmachte. Ihr Zimmer wirkte blitzsau-ber, aber ein wenig trist: ein beiges Sofa, an der Wand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, in der Ecke ein Gummibaum, der das Licht schluckte.
    »Ich muss Holly etwas sagen«, wiederholte ich. »Es geht um etwas Berufliches. Die beiden haben nicht zufällig eine Telefonnummer hinterlassen, oder?«
    Sie wartete einen Moment zu lange, ehe sie mit einem aufge-setzten Lächeln antwortete: »Nein. Jedenfalls nicht bei mir.
    Warum sollten sie auch?«
    »Charlie hat ein Handy, oder?«
    »Ja«, antwortete sie. Dann fügte sie rasch hinzu: »Ich hab die Nummer aber nicht.«
    »Es ist wichtig«, sagte ich.
    »Ich habe die Nummer nicht«, wiederholte sie.
    »Naomi«, drängte ich, doch als ich ihre angespannte Miene und ihren misstrauischen Blick sah, sparte ich mir den Rest. Es hatte keinen Sinn, sie würde die Nummer nicht herausrücken.
    Einen Moment lang konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, wusste nicht, was ich tun sollte. Dann entdeckte ich auf dem niedrigen Tisch neben dem Sofa einen Terminplaner.
    Konnte es sein, dass die Nummer darin zu finden war? Und wie kam ich an sie heran? Ich durfte auf keinen Fall wieder gehen.
    Noch nicht.
    »Tja«, sagte ich, »was glaubst du, wie die Dinge stehen? Mit Holly, meine ich.«
    »Nicht gut«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Charlie glaubt
    …«
    »Ich weiß – er glaubt, sie wird es wieder versuchen. Bist du auch dieser Meinung?«
    »Ich habe manchmal große Angst, dass …«
    »Hättest du vielleicht eine Tasse Kaffee für mich?«
    »Bitte?«
    »Kaffee. Hast du zufällig welchen da?«
    »Ich bin ein bisschen in Eile«, antwortete sie.
    »Dann Instant.«
    »Instant habe ich nicht.«
    »Oder eine schnelle Tasse Tee.«
    »Meinetwegen«, sagte sie.
    Wir blickten uns an. Mir war klar, dass sie mich in dem Moment genauso hasste wie ich sie.
    Nachdem sie den Raum verlassen hatte, wartete ich einen Augenblick. Dann rief ich: »Kann ich dir was helfen?«

    »Komm doch rüber!« antwortete sie. Durch die dünnen Wände klang sie unheimlich nah.
    Ich griff nach dem Terminplaner und blätterte rasch zur aktu-ellen Woche. Da stand etwas. Ich hatte auf eine Adresse gehofft, aber es war nur eine Telefonnummer, eine lange Vorwahl, keine Londoner Nummer. Natürlich konnte es sich auch um die Nummer ihrer Mutter oder von sonst wem handeln. Oh, bitte, lieber Gott, dachte ich, bitte, bitte, ich werde mich auch mein Leben lang bemühen, ein guter Mensch zu sein. Die Nummer war so lang, dass ich sie mir unmöglich auswendig merken konnte. Ich fand auf dem Kaminsims einen Stift und notierte sie mir auf dem Handrücken. Als ich Schritte hörte, klappte ich den Planer rasch zu und kritzelte die letzten paar Zahlen. »Was machst du da?«
    Ich fuhr erschrocken herum. Sie war hinter mir in den Raum getreten. »Ideen«, antwortete ich lahm.
    »Was?«
    »Wenn ich irgendwelche Ideen habe, muss ich sie mir sofort aufschreiben, weil ich sie sonst gleich wieder vergesse, und deswegen notiere ich sie auf alles, was ich gerade zur Hand habe. Notfalls auch eine Hand. Mir ist gerade eine Idee für eine Präsentation gekommen.« Zum Beweis streckte ich ihr meine Hand hin, wenn auch nur ganz kurz, damit sie nicht sehen konnte, dass es sich nur um Zahlen handelte. »Aber bestimmt möchtest du das gar nicht so genau wissen.«
    »Ich wollte dich fragen, ob du deinen Tee mit Milch trinkst«, sagte Naomi.
    »Es tut mir Leid«, antwortete ich. »Ich muss weg. Es ist mir gerade wieder eingefallen. Eine Besprechung. Ich werde sowieso schon zu spät kommen. Sie hat schon angefangen. Ich fühle mich ganz schrecklich. Wir müssen das bald mal wiederholen. Das ist jetzt wirklich sehr unhöflich von mir. Es tut mir Leid, ich muss –«

    Ich rannte regelrecht aus dem Haus und hielt draußen nach einem Taxi Ausschau, aber es handelte sich um eine Wohnge-gend. Es gab keine Taxis. Ich warf einen Blick auf meinen Handrücken. Eine Telefonnummer. Was half mir das? Auf jeden Fall konnte ich dort anrufen. Ich wählte die Nummer auf meinem Handy. Es läutete ewig,

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