Der Feind in deiner Nähe
Tonfall: »Ich fände es auch schön, wenn du dabei wärst. Ohne dich ist es nicht dasselbe. Es macht einfach keinen Spaß.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, verspürte ich plötzlich eine nagende Angst, die sich anfühlte wie eine juckende Stelle in meinem Gehirn, an die ich nicht herankam. Das Gefühl verließ mich den ganzen Vormittag nicht, obwohl ich mehrere Besprechungen und auch sonst jede Menge Arbeit hatte. Mittags holte ich mir ein Sandwich und ging zurück in das leere Büro, aber während ich auf meinen Bildschirm starrte, sah ich die ganze Zeit Hollys Gesicht vor mir.
Als das Telefon klingelte, fuhr ich erschrocken hoch. Es war unser Anwalt, der weitere Details über die Konditionen wissen wollte, zu denen Deborah bei uns angestellt gewesen war. Ich zog ein paar Schubladen auf, um die Informationen für ihn zusammenzusuchen, und stieß dabei auf den braunen Umschlag mit den Fotos von Holly. An dem Tag, als Rees ihn mir auf den Schreibtisch warf, hatte ich ihn wie ein schmutziges Geheimnis irgendwo versteckt, wo ich ihn nicht sehen musste. Doch nun zog ich aufgeregt den Stapel glänzender Fotos heraus. Ich war überrascht, aber auch entsetzt über die Menge.
Sie waren alle heimlich aufgenommen worden. Holly hatte geglaubt, allein und unbeobachtet zu sein, dabei war sie in Wirklichkeit die ganze Zeit bespitzelt und auf Film gebannt worden. Ich brachte es kaum übers Herz, sie mir anzusehen; irgendwie erschien es mir fast unanständig, aber am Ende konnte ich doch nicht anders, als eines nach dem anderen zu betrachten. Ich versuchte, jeweils aus Hollys Miene herauszule-sen, wie es ihr zu dem betreffenden Zeitpunkt gerade ging. Die Bilder waren ein chronologischer Abriss ihrer Krankheit, Dokumente ihrer Reise durch Euphorie und Depression bis in den Wahnsinn. So hätte sie eigentlich niemals jemand sehen sollen.
Das erste Foto, nach dem ich griff, war eine etwas unscharfe Nahaufnahme von Holly, die sie im Halbprofil zeigte. Sie trug ihre Wildlederjacke und hatte ihr Haar unter einer lustigen kleinen Baskenmütze versteckt. Das Gesicht, das sie auf dem Foto machte, hatte ich bei ihr nur ganz selten gesehen: Es war ein Ausdruck verträumter, zerstreuter Nachdenklichkeit. Ein anderes zeigte sie vor dem Büro, aber dieses Mal war sie weiter entfernt, und ich ging neben ihr. Ich hatte die Hände in den Manteltaschen und den Kopf gesenkt. Mit meiner sorgenvoll gerunzelten Stirn schien ich in eine ganz andere Welt zu gehören als Holly, die mitten in einer schwungvollen Bewegung festgehalten war und anscheinend gerade etwas sagte. Ihr offener Mantel wehte im Wind. Sie hatte in typischer Hollyma-nier die Hände hochgeworfen, ein paar Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, und ihr leuchtend rot geschminkter Mund war zu einem Grinsen verzogen. Sie wirkte so lebendig, gleichzeitig aber auch irgendwie hysterisch.
Auf dem nächsten Foto hatte sie sich bei einem Mann unter-gehakt, den ich als Stuart identifizierte, und trug unglaublich alberne Schuhe. Während Stuart wie gebannt auf sie hinunter-starrte, würdigte sie ihn keines Blickes. Sie hatte die Lippen geschürzt und sah stur geradeaus.
Ich ging die Fotos weiter durch. Holly von hinten, wie sie, mit mehreren Farbdosen beladen, in ein Taxi stieg. Ein Mann mit einem Leichengesicht beugte sich vor, um ihr hineinzuhelfen. In dem Taxi saß noch eine weitere Person, aber da das Foto nachts aufgenommen worden war, konnte man nicht erkennen, um wen es sich handelte. Auf einem anderen sah man Holly mit Charlie durch den Park gehen. Das Foto wirkte leicht gemasert, was wahrscheinlich bedeutete, dass es regnete. Charlie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, während Holly wieder wild gestikulierte. Sogar auf Fotos sah man, dass sie sich selten stillhielt. Ein weiteres zeigte sie in einer unförmigen Jogginghose und mit fettigem Haar. Sie ging leicht gebeugt, wie eine alte Frau.
Das nächste Foto hätte ich vor Schreck fast fallen lassen, denn Holly sah darauf so schlimm aus, dass ich sie erst auf den zweiten Blick erkannte: Es war wie eine Zeichentrickversion, alles erkennbar, aber stark übertrieben. Sie trug ein Nachthemd, nicht zusammenpassende, hochhackige Schuhe und einen Schal, der ihr von einer Schulter bis auf den Gehsteig hing. Ihr Haar wirkte verfilzt, und ihr Mund war weit aufgerissen zu – was?
Einem Schrei des Entsetzens? Einem animalischen, schmerzer-füllten Heulen? Ich konnte die eindringliche, schreckliche Intimität dieser Aufnahme kaum ertragen.
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