Der Feind in deiner Nähe
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich das, was Holly in den letzten Monaten oder sogar Jahren durchgemacht hatte, nur bis zu einem gewissen Grad in mein Bewusstsein hatte dringen lassen.
Mein Blick glitt über die Gesichter der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie starrten sie fast alle an, sodass man den Eindruck hatte, dass Holly den Mittelpunkt des Fotos bildete, obwohl sie sich in Wirklichkeit auf der linken Bildhälfte befand. Ein junger Mann lachte und deutete mit dem Finger auf sie. Ich errötete bis zu den Haarwurzeln und wurde dann ziemlich wütend. Niemand sollte je wieder dieses Foto zu sehen bekommen. Ich riss es in der Mitte auseinander und warf es in den Papierkorb unter meinem Tisch.
Dann erstarrte ich plötzlich, ohne recht zu wissen, warum. Ich hatte etwas gesehen und doch nicht gesehen. Irgendetwas war mir im Gedächtnis haften geblieben, aber ich wusste nicht, was.
Ich beugte mich hinunter und holte die zwei Hälften wieder aus dem Papierkorb. Betrachtete Holly, die Personen um sie herum
– vor und hinter ihr. Dann entdeckte ich, was ich schon vorhin wahrgenommen hatte, ohne es richtig zu registrieren. Was ich gewusst hatte, ohne dass es mir richtig bewusst geworden war.
Ich erkannte ihn. Ganz am Rand des Bildes, ein Stück hinter Holly. Er trug seine Lederjacke und betrachtete die völlig aufgelöste Frau mit ruhiger, prüfender Miene, ganz anders als die neugierigen, schadenfrohen oder mitleidigen Menschen rundherum.
Charlie.
Ich schloss die Augen und hörte wieder Hollys Stimme:
»Als ich auf der Straße durchdrehte und auf diese Leute losging und daraufhin ins Krankenhaus gebracht wurde, war ich einfach von zu Hause abgehauen. Er wusste nicht, wo ich war.
Es hätte genauso gut sein können, dass ich mich unter einen Bus geworfen hatte. Die Polizei rief bei ihm an, und er fuhr ins Krankenhaus. Ich tobte wie eine Irre …« Das hatte sie gesagt.
Das hatte Charlie ihr erzählt. In Wirklichkeit aber war er ihr die ganze Zeit gefolgt und hatte zugesehen, wie sie auf der Brücke zusammenbrach. Warum war er ihr nachgegangen? Was hatte er erwartet? Dass sie sich umbringen würde? Wieder starrte ich auf das Foto. Er wirkte sehr gefasst.
Ich zog das Telefon zu mir heran und wählte ihre Handynum-mer, aber nachdem es ein paarmal geläutet hatte, schaltete sich ihre Mailbox ein. »Holly«, sagte ich. »Holly, ich bin’s, Meg.
Wenn du das abhörst, dann ruf mich gleich zurück, ja? Sofort, hörst du? Ruf mich einfach an. Es ist dringend.«
Dann wählte ich ihre Festnetznummer und lauschte dem Klingelton, der immer wieder durch ein leeres Haus hallte.
37
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und alles noch einmal genau zu durchdenken. Ich konnte richtig spüren, wie mein Gehirn auf Hochtouren zu arbeiten begann, fast als würde es zischend und knisternd Funken schlagen. Wenn ich in der Arbeit etwas vorzubereiten hatte, machte ich mir immer eine Liste, die ich dann Punkt für Punkt abhakte, um sicherzustellen, dass ich nichts vergessen hatte. Dasselbe tat ich jetzt, wenn auch nur im Geist: Als Charlie darüber gesprochen hatte, dass Holly immer noch an Selbstmord denke und er Angst habe, sie zu verlieren, hatte sich das angehört, als würde er sich auf etwas vorbereiten.
Er steckte ihretwegen in finanziellen Schwierigkeiten, die immer schlimmere Ausmaße annahmen. Außerdem war da noch Naomi. Und nun dieses Foto. Für sich allein genommen wäre wahrscheinlich nichts davon besonders verdächtig gewesen, aber alles zusammengenommen … Ergab das tatsächlich ein Muster, oder war das nur eine Ausgeburt meiner Phantasie?
Plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Charlie war im Haus gewesen, als Holly sich umzubringen versuchte. Er, und nicht Holly, hatte Naomis Nummer gewählt, während seine Frau im Sterben lag. Wahrscheinlich war ihm plötzlich klar geworden, dass das Leben für ihn leichter wäre, wenn Holly sterben würde. Er hätte wieder der sorgenfreie, gut aussehende junge Mann sein können, der er gewesen war, bevor sie sich kennen lernten.
Ich rief mir ins Gedächtnis, dass der Mann, dem ich das alles unterstellte, Charlie war, der Mann, in den ich mich fast verliebt hätte. Den ich mochte, bewunderte, bemitleidete und meinen Freund nannte, meinen Seelenverwandten. Ich sah sein lächelndes Gesicht vor mir, die Krähenfüße um seine Augen, seine zerknitterte Kleidung. Ich musste daran denken, wie er die Stirn in Falten legte, wenn er etwas reparierte, dabei aber doch
Weitere Kostenlose Bücher