Der Feind in deiner Nähe
herausstellte, hatte Charlie keine anständige Buchhaltung geführt. Ich legte ein provisorisches Kassenbuch an, das bei einem Steuerbeamten wahrscheinlich gerade so durchgehen würde.
Nachdem ich Charlie erneut aufgeweckt hatte, machte er uns heiße Schokolade, in die wir Kekse tunkten. Meine Füße waren eiskalt, und ich spürte, dass ich langsam ein bisschen herunter-kam. Hinter meinen Augen lauerte eine große Müdigkeit, bereit, über mich herzufallen. Ich legte die Stapel, die man vergessen konnte, auf den Boden, kritzelte Zahlen in das Kassenbuch, machte mir Notizen, stupste zwischendurch Charlie an, sortierte die kleiner gewordenen Stapel neu und reduzierte sie dann immer weiter, bis am Ende nur noch sechs wirklich dringende Schreiben übrig waren. Bei dreien davon handelte es sich um unbezahlte Rechnungen, die anderen drei waren Honorarrechnungen, die Charlie nie abgeschickt hatte.
Als Charlie wieder eingedöst war, stieß ich in der untersten Schublade seines Schreibtisches auf einen Brief, den er offenbar wütend zusammengeknüllt hatte, bevor er ihn dort hineinschob.
Die Unterschrift nicht mitgerechnet, war das Schreiben drei Zeilen lang: die negative Antwort eines Verlags, der Charlies Konzept eines graphisch gestalteten Romans ablehnte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er an so etwas arbeitete. Leise schloss ich die Schublade wieder und betrachtete dann Charlie, der den Kopf zur Seite geneigt hatte, sodass ihm sein weiches Haar ins Gesicht fiel. Sein Mund war leicht geöffnet, und aus seiner Kehle drang ein leises Schnarchen. Er hatte mir nichts von dem Projekt erzählt, es vor mir versteckt und so getan, als würde es gar nicht existieren. Eine heftige Welle der Zärtlichkeit überroll-te mich, und ich fühlte mich plötzlich zittrig und schwach.
»Ein paar von denen sind richtig gut«, sagte ich in fröhlichem Ton, als er aufwachte, und deutete dabei auf den Stapel Zeich-nungen, die ich auf den Tisch gelegt hatte. Nur die von Meg und mir, auf der ich wie eine dürre, schwachsinnige Karikatur von mir aussah, hatte ich verstohlen zusammengeknüllt und in den Müllsack gestopft.
»Das sind doch bloß dämliche Kritzeleien«, antwortete er, während er sich die Augen rieb.
Ich musterte ihn prüfend. »Es macht dir keinen Spaß mehr, oder?«
»Was?«
»Das Zeichnen.«
Er zuckte mit den Achseln. »Es ist auch bloß eine Arbeit.«
»Es ist nicht bloß eine Arbeit. Du bist richtig gut darin, total begabt. Mein Gott, ich wünschte, ich könnte so was. Und es hat dir doch immer solchen Spaß gemacht.«
»Das war, bevor ich es tun musste. Bevor es ein Job war. Wie du mir ja immer wieder sagst, haben wir eine Hypothek abzuzahlen.«
»Du empfindest es wirklich nur noch als Plackerei?«
»Das ist jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, Holly. Es ist zwei Uhr morgens.«
»Dann hör doch damit auf«, fuhr ich fort. »Du musst es ja nicht machen.«
»Wovon redest du?«
»Weißt du eigentlich, was du wirklich mit Begeisterung tust?
Was dich richtig befriedigt? Etwas zu bauen oder zu reparieren.
Ich habe den Ausdruck auf deinem Gesicht gesehen, wenn du das machst. Damit solltest du dein Geld verdienen.«
»Du meinst, ich sollte Sachen reparieren?«
»Ja. Vergiss das mit dem Künstler oder Illustrator. Mach noch mal eine Ausbildung. Eine Lehre. Als … als Klempner. Ich lese ständig, dass Klempner für ihre Arbeit verlangen können, was sie wollen, weil sie so gefragt sind. Wir könnten die Hypothek für das Haus neu festsetzen lassen. So eine Lehre lässt sich schon irgendwie finanzieren. Das würde dir bestimmt Spaß machen.«
»Deiner Meinung nach sollte ich also Abflüsse, Rohrbrüche und verstopfte Regenrinnen reparieren? So denkst du über mich, ja?«
Obwohl ich die Warnsignale hörte, ignorierte ich sie. »Das wäre jedenfalls besser, als Tag für Tag hier herumzusitzen und nichts zustande zu bringen, außer in die Luft zu starren und dich mies zu fühlen, während ich immer genervter werde. Lass uns das doch einfach durchziehen.«
»Und du sitzt als Firmenberaterin oder wie auch immer du dich nennst in Soho. Und was macht Ihr Mann? Oh, der ist Klempner. Wenn Sie eine verstopfte Toilette haben, können Sie ihn jederzeit anrufen.«
»Warum nicht, Charlie? Was ist so schlimm daran, als Klempner zu arbeiten?«
»Ich hab gedacht, du glaubst an mich.«
»Das tue ich doch – natürlich tue ich das.«
»Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mal gesagt, ich hätte eine
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