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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ins Haus. Drinnen trafen wir Charlie in Gesellschaft seines alten Freundes Sam an. Die beiden lümmelten im dunklen Wohnzimmer auf dem Sofa und schauten sich eine DVD an. Ich küsste Charlie auf den Scheitel und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas.
    »Hallo«, sagte er und streckte eine Hand nach mir aus. »Hallo, Meg.«
    »Hallo«, antwortete sie. Wie immer wurde sie dabei ein wenig rot.
    »Ist euer Wochenende gut gelaufen?«
    »Ja, aber es war extrem anstrengend.«
    »Möchtet ihr etwas zu trinken? Oder zu essen? Es könnte sogar sein, dass noch ein Stück Pizza übrig ist.«
    »Bloß eine Tasse Tee. Ich mach das schon.«
    »Keine Sorge. Ich kapiere sowieso nicht, was in diesem Film abläuft.«
    Mit diesen Worten stand er auf und verschwand in die Küche, gefolgt von Meg. Ich konnte die beiden miteinander reden hören, dann brach Charlie in lautes Gelächter aus. Ich ließ mich neben Sam auf dem Sofa nieder und starrte auf den Bildschirm.
    Irgendetwas flog gerade in die Luft.
    »Worum geht es?«, fragte ich.
    »Es ist ein bisschen kompliziert«, antwortete Sam. »Der Typ ist ein Auftragskiller, der sich bereit erklärt hat, einen letzten Auftrag zu erledigen. Und seine Tochter ist entführt worden.
    Wir vermuten, dass beides irgendwie zusammenhängt.«
    »Hast du deine Steuererklärung fertig?«, rief ich zu Charlie hinüber.
    »Ich hab zumindest angefangen«, antwortete er.
    »Ich dachte, das wäre schon ganz eilig.«
    Darauf kam keine Antwort.
    Ich ging in den Garten hinaus. Er wirkte im Moment noch wie Ödland, aber Charlie und ich hatten Pläne damit. In der Mitte sollte sich ein gepflasterter Weg dahinschlängeln, zu beiden Seiten würden wir Rasen säen, am hinteren Ende einen Apfel-baum und einen Kirschbaum pflanzen und – das war meine Aufgabe – neben der Küchentür eine kleine gekieste Terrasse anlegen, auf die ich Dutzende von Terrakottatöpfen mit Sträu-chern, duftenden Blumen und dekorativen Bäumchen stellen wollte. Ich hatte sogar schon einen Lorbeerbaum bestellt. Ich lehnte mich an die Wand, an der Jasmin und Geißblatt hochgezogen werden sollte, und stellte mir vor, wie ich im Sommer mit einem Glas kaltem Weißwein in der Hand draußen sitzen und Charlie dabei zusehen würde, wie er an dem Grill hantierte, den er für uns bauen wollte.
    Jetzt aber war es kalt und dunkel hier, sodass ich schon nach wenigen Minuten wieder hineinging. Meg sagte, sie sei gerade am Aufbrechen, und ausnahmsweise versuchte ich nicht, sie zum Bleiben zu überreden. Ich musste dringend unter die Dusche. Obwohl ich so erschöpft war, fühlte ich mich nach dem Stress des Wochenendes immer noch total aufgedreht und hoffte, dass das Wasser mich beruhigen würde, sodass ich bald ins Bett gehen und schlafen konnte. Hinterher schlüpfte ich in den Pyjama, den Charlie mir geschenkt hatte, und gesellte mich wieder zu den Männern. Doch der Film war so hektisch und nervenaufreibend, dass ich davon nur noch unruhiger wurde. Ich ging nach oben und griff nach dem Roman, den ich gerade las, aber nach ein paar Seiten wurde mir klar, dass ich nichts von dem Gelesenen aufgenommen hatte und von vorn würde beginnen müssen. Offenbar war ich nicht in der Stimmung zum Lesen. Ich brauchte irgendeine Beschäftigung, bei der ich mein Gehirn ausschalten konnte. Also tappte ich die Treppe wieder hinunter und spähte in Charlies Arbeitszimmer. Bei dem Anblick, der sich mir bot, entgleisten mir sofort die Gesichtszü-
    ge.
    Als ich das erste Mal hörte, dass Charlie Illustrator war, glaubte ich zu wissen, was das heißt. »Illustrator« bedeutete nicht dasselbe wie »Künstler«, ein für mich sehr vages und zugleich sehr beeindruckendes Wort voller Potential für die Phantasie.
    »Illustrator« war konkreter und präziser, mit klaren Grenzen und einem Element des Rationalen. Ein Illustrator hatte einen Auftrag und einen Termin, ein konkretes Thema und eine Mappe. Ich stellte mir vor, dass Lektoren oder Redakteure bei Charlie anrufen und ihn beauftragen würden, etwas für eine Zeitung zu zeichnen, das am nächsten Tag fertig sein musste, oder etwas für eine Zeitschrift, das er eine Woche später abliefern musste, oder einen Buchumschlag zu entwerfen, für den er sich mehrere Monate Zeit lassen konnte. Vielleicht würde er auch Kinderbücher illustrieren. Ich hatte ihn mir in einem ordentlichen, luftigen Raum vorgestellt, mit einem großen Zeichentisch und einem Gefäß voller gespitzter Bleistifte. Das schien auch genau zu dem zu passen, was

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