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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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allgemein überschätzt«, antwortete ich. »Es gibt zu viele interessante andere …« Die Worte überschlugen sich und blieben in meinem Mund hängen wie trockene Brotkrumen. »Andere Dinge. Weißt du, was ich meine?«
    »Ich bin nicht sicher«, sagte Charlie. »Es fällt mir nicht immer leicht, dir zu folgen.«
    »Soll das ein Kompliment sein?«, fragte ich, aber er gab mir keine Antwort.

    8
    Im Gehen denkt es sich leichter, und wenn man mal gar nichts denken möchte, geht das auch leichter. Man setzt einfach einen Fuß vor den anderen und lässt die kalte Luft durch einen hindurchströmen, sieht seine Umgebung, ohne sie wahrzunehmen, hört Geräusche, ohne sie zu registrieren.
    An diesem Tag legte ich den ganzen Weg in die Arbeit zu Fuß zurück: von Archway bis Soho. Das sind ungefähr zehn Kilometer, und man geht größtenteils stark befahrene Hauptstraßen entlang. Beim Überqueren der Brücke bemühte ich mich aus Angst vor einem Schwindelanfall, möglichst nicht übers Geländer zu blicken. Dann lief ich den Hügel hinunter, die Kentish Town Road entlang und weiter durch die Camden High Street. In einem kleinen Café trank ich eine Tasse Kaffee, rauchte eine Zigarette, die ich von einer jungen Frau schnorrte, und belauschte ein Gespräch zwischen zwei Schulmädchen darüber, wie schwierig es war, richtig zu knutschen, wenn man eine Zahnspange trug. Dann ging es weiter: Hampstead Road, Tottenham Court Road, und schon war ich da, nur einen Steinwurf von unserem Büro entfernt. Ich schaute auf meine Uhr. Inklusive Kaffeepause hatte ich nur gut anderthalb Stunden gebraucht, was mir recht wenig erschien. Vielleicht waren es doch keine zehn Kilometer, oder ich war sehr schnell gegangen.
    Erst jetzt merkte ich, dass meine Wangen glühten und mein Haar schweißnass an meiner Stirn klebte.
    Ich holte mir bei Luigi’s ein Stück Mohngebäck und verspeiste es an unsere Büromauer gelehnt, um mich noch ein wenig abzukühlen, ehe ich hinaufging. Eine Frau auf Rollerblades glitt anmutig auf mich zu und bedachte mich im Vorbeifahren mit einem breiten Lächeln. Vielleicht sollte ich mir auch solche Dinger anschaffen, dachte ich. Dann konnte ich jeden Morgen in die Arbeit schweben. Es sah nicht allzu schwierig aus.
    »Hallo!«
    »Meg, ich habe dich gar nicht kommen sehen, war ganz in Gedanken.«
    »Hast du gut geschlafen?«
    »Ja.«
    »Ich bin schon vor zehn ins Bett und erst um acht aufgestanden. Was für eine Wohltat!«
    »Du siehst irgendwie anders aus«, stellte ich fest. »Was hast du gemacht?«
    »Gar nichts!«
    »Doch. Irgendwas ist mit deinem Haar passiert.«
    Errötend griff sie sich an den Kopf. »Ich habe mir in einem Katalog eins von diesen Glätteisen bestellt, und heute Morgen hab ich es einfach mal ausprobiert«, erklärte sie. »Hinterher schaute mein Gesicht auch nicht anders aus als mit meiner Wuschelmähne.« Dann fügte sie verlegen hinzu: »Findest du es sehr schlimm?«
    »Nein, es gefällt mir. Aber du hast keine Wuschelmähne, du hast Locken. Ich wünschte, ich hätte auch so wunderschönes Haar wie du.«
    »Das glaubst du doch wohl selber nicht, Holly!« Einen Moment lang wirkten ihre Lippen verkniffen und ihre Augen schmal, und sie sah plötzlich aus wie eine völlig andere Person.
    Sie machte fast so ein Gesicht wie Charlie, als ich ihm letzte Nacht gesagt hatte, er solle doch Klempner werden. Dann lächelte sie. »Na ja, es ist einfach mal was anderes. Nach dem nächsten Regenguss drehen sie sich von selbst wieder auf.
    Übrigens …« Sie hielt inne.
    »Ja?«
    »Ich weiß gar nicht, ob ich es dir sagen soll.«

    »Raus damit. Nach dieser Ankündigung musst du es mir sagen.«
    »Ich hab einen Anruf bekommen. Von einem Mann. Er hat seinen Namen nicht genannt, aber gesagt, dass er dich kennt und dass dir Ärger bevorsteht. Dass wir alle ernten, was wir säen, oder so was in der Art. Er hat sich ziemlich gruselig angehört.«
    »War er mit einer Sense bewaffnet?«
    »Holly!«, sagte sie vorwurfsvoll.
    Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.

    Bei uns in der Firma gibt es drei Toiletten. Um neun vor zwölf betrat ich die geräumigste der Kabinen, rollte meinen Mantel zu einer Art Nackenrolle zusammen und legte ihn auf den herun-tergeklappten Klodeckel. Dann kickte ich meine Schuhe in eine Ecke, ließ mich auf den Boden sinken und bettete meine Wange auf den rauen, aber warmen Stoff meines Mantels. Dankbar schloss ich die Augen.
    Als in der Toilette neben mir die Spülung betätigt wurde,

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