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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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verteilt. Er hatte dem Grauen kurz ins Auge geblickt und dann den Rückzug angetreten. Wahrscheinlich war ihm in dem Moment der Gedanke gekommen, Sam anzurufen. In solchen Situationen brauchte man Freunde, die einen von dem ablenk-ten, was man eigentlich tun sollte.
    Die Küche sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
    Während die beiden Männer sich weiter den Film anschauten, begann ich zu putzen, zu schrubben und zu polieren. Als ich damit fertig war, stellte ich alles, was herumstand oder -lag, in die Schränke. Anschließend räumte ich die Schränke noch einmal komplett aus, nahm ihren Inhalt genau unter die Lupe und warf einen Teil davon in einen Müllsack, ehe ich den Rest erneut einräumte. Als Charlie hereinkam, war ich fast fertig und hatte das Gefühl, einen Berg erklommen zu haben und nun vom Gipfel aus auf ein schönes sonniges Tal hinunterzublicken.
    »Das wollte ich doch machen«, sagte Charlie.
    »Kein Problem. Ich hatte sowieso vor, hier mal richtig auszu-misten.«
    »Auszumisten?«
    »Die Schränke. Ich habe eine Menge Zeug weggeschmissen.
    Zum Beispiel die Eismaschine, bei der irgendein Teil fehlte.«
    »Aber das wollte ich doch ersetzen.«
    »Wie denn? Wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert. Es gibt keine Eisenwarenhandlungen mehr, in denen man Ersatzteile bekommt. Inzwischen ist es billiger, eine neue Maschine zu kaufen. Falls wir überhaupt eine brauchen. Was nicht der Fall ist, weil wir nie Eis machen. Genauso wenig wie selbst gemachte Nudeln. Die Maschine habe ich auch entsorgt.
    Sie war schon ganz rostig. Wir kochen eigentlich nie etwas, außer Toast und Eier mit Speck.«
    »Wie schaffst du das bloß?«, fragte er. »Nach diesem anstrengenden Wochenende? Ich wette, du hast kaum geschlafen. Bist du denn gar nicht erschöpft?«
    »Ganz im Gegenteil«, erklärte ich. »Das tut mir gut. Es hilft mir, langsam wieder herunterzukommen.«
    »Weißt du, ich mag es wirklich, wenn du diesen Pyjama anhast, aber manchmal bereue ich fast, dass ich ihn dir gekauft habe.«
    Ich wusste, was er damit sagen wollte, tat aber so, als würde ich ihn nicht verstehen. Mein ganzer Körper schmerzte. Der Gedanke, angefasst zu werden, war mir im Moment unerträglich.
    »Ich hab einen Blick in dein Arbeitszimmer geworfen …«, begann ich.
    »Ich weiß, ich weiß«, sagte er.
    »Deine Steuererklärung. Sie war letzte Woche fällig, oder?
    Oder schon vorletzte?«
    »Ich mache es so schnell wie möglich«, antwortete er.
    »Lass uns die Sachen rasch gemeinsam durchsehen.«
    »Nun sei nicht albern. Es ist halb zwölf. Wie ich dich kenne, bist du das ganze Wochenende nicht zum Schlafen gekommen.
    Außerdem hast du selbst eine Firma, um die du dich kümmern musst.«
    »Ich bin nicht müde, und ich möchte auch nur einen kurzen Blick darauf werfen. Nun komm schon!«
    Ich schlüpfte in Hausschuhe und einen Bademantel und zerrte Charlie in sein Arbeitszimmer. Es war wirklich ein beklemmen-der Ort.
    »Genauso sieht es in meinem Gehirn aus«, stellte er mit einem Lächeln fest.
    »Bitte sag so was nicht.«
    »Ich kümmere mich morgen darum«, erklärte er. »Ich verspreche es dir. Ich werde sogar ein paar von den Briefen aufmachen.
    Die mit den roten Aufklebern.«
    Ich holte tief Luft. »Der wichtigste Rat, den wir bei der Gründung von KS bekommen haben, war, mit den Leuten in Kontakt zu bleiben. Sie beginnen sich Sorgen zu machen, wenn sie nichts von einem hören. Das hier« – ich deutete auf das Schre-ckensszenario – »erinnert mich an ein kleines Kind, das die Hände vor die Augen hält und glaubt, man könnte es dann nicht sehen.«
    Er zog eine Grimasse.
    »Wir wollen doch nicht das Haus verlieren, Charlie.«
    »So schlimm ist es nun auch wieder nicht«, entgegnete er leichthin. »Du kannst mich immer noch umbringen und die Lebensversicherung kassieren.«
    Ich holte einen Müllsack, meinen zweiten an diesem Abend, und ein Notizbuch, dann machte ich mich an die Arbeit. Ich öffnete sämtliche Briefe und begann sie auf verschiedene Stapel zu verteilen: richtige, nach einem bestimmten System angeordnete Stapel. Charlie protestierte zunächst, legte sich dann aber auf das alte Sofa und glitt in einen Zustand des Halbschlafs hinüber, aus dem ich ihn hin und wieder aufweckte, indem ich ihm irgendwelche Fragen stellte. Verpackungsmaterial, Werbung und anderer Müll wanderten in den Sack. Dann las ich alles durch und sortierte es zuerst thematisch und dann noch mal nach dem Schreckensgrad. Wie sich

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