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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ich an ihm feststellte: dass er verträumt und introvertiert war, aber gleichzeitig solide und humorvoll, zerstreut, aber doch akribisch und auf seine Aufgabe konzentriert. Er hatte zarte, aber zupackende Hände, die in der Lage waren, Dinge herzustellen (Holzschnitzereien, Regalfächer und kunstvolle Holzkisten, einen Gokart für den autistischen Jungen drei Türen weiter) und Kaputtes zu reparieren (Fenster, Fahrräder, sämtliche Teller und Tassen, die ich zerbrach, sogar die Waschmaschine).

    Allerdings war mir nicht klar gewesen, dass das Illustrieren ein ebenso hartes Geschäft ist wie jedes andere auch. Man muss mit seiner Mappe erst einmal bei Lektoren, Redakteuren und Agenten Klinken putzen gehen, um überhaupt einen Fuß in die Tür zu bekommen. Es geht darum, Kontakte aufzubauen und diese dann möglichst gut zu nutzen. Mittlerweile hatte ich begriffen, dass Charlie immer – selbst wenn wir miteinander im Bett lagen oder in Urlaub waren – im Hinterkopf hatte, dass jedes Jahr eine weitere Flut neuer, hungriger, talentierter Illustratoren aus den Kunstschulen auf die Leute losgelassen wurde, bewaffnet mit ihren Mappen, ihrem Ehrgeiz und ihren frischen, neuen Ideen.
    Ich war fest entschlossen, wie eine Löwin für ihn zu kämpfen, seine Muse und seine Agentin zu sein, die ganze Drecksarbeit für ihn zu erledigen, denn dafür war er zu phlegmatisch und doch vielleicht zu sehr Künstler. Genau das liebte ich an ihm, aber gleichzeitig hasste ich es und hätte manchmal vor Frust die Wände hochgehen können. Ich hielt trotzdem meist den Mund, weil er so viel Talent besaß. Davon versuchte ich die Leute auch immer wieder zu überzeugen, aber die Einzigen, die mich wirklich verstanden, waren diejenigen, die ihn sowieso schon kannten und seine Arbeiten oder, noch besser, ihn selbst bei der Arbeit gesehen hatten. Wenn er aufs Papier starrte, trat ein ganz besonderer Ausdruck in seine Augen. Er konnte eine Linie oder einen Farbklecks so wundervoll sparsam und geschickt einset-zen und hatte ein unglaubliches Gefühl dafür, wo etwas hingehörte und wann es reichte und er aufhören musste. Ich wollte nicht die nörgelnde Frau sein, die ihn davon abhielt, sein Potential auszuschöpfen. Dafür hatte ich zu viele von den schrecklichen alten Filmen gesehen. Ich wollte nicht der Drache sein, der schimpfte: »Schon recht, Leonardo, geh ruhig und mal das Abendmahl, aber erwarte nicht von mir, dass ich noch da bin, wenn du zurückkommst.«
    Er sagte immer, dass er es auf seine Art und in seinem Tempo machen würde. Manchmal hieß das, dass er es überhaupt nicht machte. Termine verstrichen. Ich konnte es nicht ertragen, wenn das geschah. Es ging mir nicht nur ums Geld, auch wenn wir das weiß Gott dringend benötigten, weil die hohe Hypothek abzuzahlen war und Meg und ich die Firma gegründet hatten. Was ich am allermeisten hasste, war die Vergeudung von so viel Talent. Das ging mir dermaßen gegen den Strich, dass ich jedes Mal richtig entnervt und gereizt war, wenn es passierte. Ich versuchte, mich am Riemen zu reißen und nichts zu sagen, nicht zu nörgeln, weil es dadurch nur noch schlimmer wurde. Oft aber konnte ich meinen Mund dann doch nicht halten. Ich hatte mal eine Sammlung von van-Gogh-Briefen gelesen. Es handelte sich um Charlies Lieblingsbuch, seine Bibel sozusagen. Mir war aber während der Lektüre immer wieder durch den Kopf gegangen, dass van Gogh eigentlich nur eine einfühlsame Frau und ein bisschen medizinische Hilfe gebraucht hätte. Trotzdem hatte er die berühmten Bilder gemalt. Und sich umgebracht.
    Charlies Papierkram war über den ganzen Boden verstreut. Es handelte sich größtenteils um Stapel von Briefen, die zum Teil noch ungeöffnet waren. Dazwischen lagen aufgeschlagene Bücher, deren Rücken bereits Knicke aufwiesen – eines über schwarze Löcher, eines über neue Evolutionstheorien, eine Anthologie mit Beschreibungen von Schachspielen. Die Van-Gogh-Briefe. Ich konnte mir Charlies Wochenende genau vorstellen: unzählige Tassen Tee und Kaffee. Eine Joggingrunde durch Highgate Woods. Ein bisschen Fernsehen. Ein paar Seiten eines Buchs, einer Zeitschrift. Irgendeine Reparatur im Haus.
    Ein Bier mit Freunden. Ein paar Stunden online. Eine Pizza zum Mitnehmen. Irgendwann hatte er sich dann endlich dazu aufgerafft, seine Steuererklärung in Angriff zu nehmen. Er hatte die großen Stapel, die sich auf und neben seinem Schreibtisch türmten, in kleinere Stapel sortiert und über den ganzen Raum

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